Ein Vorabdruck einer Studie aus Stanford schätzt für Santa Clara County, dass Anfang April die tatsächliche Zahl der bereits SARS-CoV-2-Infizierten das 50- bis 85-fache der der gemeldeten Fallzahl war. Sollte (im Konjunktv!) das zutreffen, und sollte das repräsentativ für weitere Teile westlicher Länder sein, dann hätte das erhebliche Auswirkungen auf die Schätzungen der Sterblichkeit und Komplikationsrate von Covid-19 sowie auf plausible Strategien zur Kontrolle der Seuche und für den Ausstieg aus den „Maßnahmen“.
Die Studie für sich beweist, wie auch die Gangelt-Studie, noch wenig. Die Validität der Ergebnisse hängt, wie die Autoren diskutieren, wesentlich davon ab, dass die Sensitivität und Spezifität der verwendeten Antikörpertests richtig geschätzt wurde. Nachdem zwar versucht wurde, die Teilnehmer demographisch repräsentativ auszuwählen, sie aber mittels Facebook rekrutiert wurden, kann es natürlich auch sein, dass sich da vorwiegend Leute meldeten, die guten Grund zur Vermutung hatten, sie hätten die Krankheit bereits durchgemacht, was die Ergebnisse wesentlich verzerren könnte.
Zwei Sorten widersprüchlich anmutender Informationen
Wir haben also zwei Sorten widersprüchlich anmutender Informationen.
Einerseits stellt sich bei Massentests an kleineren Populationen oft eine erhebliche Durchseuchung bis über die Hälfte und eine erhebliche Dunkelziffer heraus. (Von mir diskutiert in Bezug auf Flugzeugträger, die Aufnahmeeinrichtung in Ellwangen und werdende Mütter in New York City.) Die Erfahrungen dieser Orte deuten darauf hin, dass die Durchseuchung der Bevölkerung weit fortgeschritten sein könnte, jedenfalls weit genug, dass das Einfangen der Infektionsketten illusorisch wäre, und dass die Opferzahlen zwar erheblich wären, aber dramatisch unter dem, was man befürchtet hat.
Andererseits haben wir aber auch z.B. die Bilder aus Bergamo vor Augen, wo offenbar das Gesundheitssystem zusammenbrach und eine hohe Sterblichkeit eintrat. Bei Massentests in Vò wurde eine nur geringe Durchseuchung feststellt, deren Ausbreitung sich offenbar durch wiederholte Tests aller und Quarantäne der positiv Getesteten einfangen ließ, jedenfalls zeitweilig.
Wie soll man das interpretieren? Es kann sein, dass sich das Infektions- und Erkrankungsgeschehen aus welchen Gründen auch immer zwischen verschiedenen Orten massiv unterscheiden. Es kann auch sein, dass eine Gruppe der Studien einen systematischen Fehler enthält.
Ideologie- statt faktenbasierter Blindflug
Das herauszufinden wird nicht einfach sein, und völlige Klarheit wird es, wenn überhaupt, vermutlich erst hinterher geben. Klar ist aber, dass die interne ideologische und nicht faktenbasierte Festlegung der Bundesregierung auf eine geringe Dunkelziffer zu Anfang der Krise, verbunden mit der öffentlichen Kommunikation einer damit nicht kompatiblen Eindämmungsstrategie, und der Verzicht auf die Allokation ausreichender Ressourcen für die Ermittlung dieser wichtigsten aller Kenngrößen bei der ganzen Sache jede Diskussion über „Maßnahmen“ und „Lockerungen“ zum ideologie- statt faktenbasierten Blindflug macht.