Kabul und Saigon

Der ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaf­ter in Kabul floh mit einem Hub­schrau­ber des­sel­ben Typs, mit dem auch schon der Bot­schaf­ter aus Sai­gon aus­ge­flo­gen wur­de. Sogar die Num­mern sind fast iden­tisch. Sai­gon hat­te aller­dings Ver­tei­di­ger, wäh­rend die Tali­ban in Kabul kei­ner­lei Wider­stand vorfanden.

Der ame­ri­ka­ni­sche Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken hat­te am Sonn­tag einen schlech­ten Tag. In meh­re­ren Inter­views hat er das aus dem Fern­se­hen Offen­sicht­li­che, einen has­ti­gen Abzug der Ame­ri­ka­ner, der einen völ­li­gen Ver­lust des Krie­ges in Afgha­ni­stan mar­kiert und in an die Kata­stro­phe von Viet­nam erin­nern­de Bil­der ver­dich­tet, bestrit­ten und gera­de dadurch doch bestätigt.

Biden ver­sprach: Unter kei­nen Umstän­den wer­den Men­schen vom Dach abgeholt

Das iko­nischs­te Bild des Falls von Sai­gon, dann sogar für das zuge­hö­ri­ge Musi­cal auf der Büh­ne auf­wen­dig repro­du­ziert, ist der letz­te Hub­schrau­ber aus Sai­gon, eine UH‑1 der Air Ame­ri­ca, einer zivi­len Flug­ge­sell­schaft der CIA, in den sich eine viel zu lan­ge Schlan­ge drän­gen will. Der ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaf­ter Gra­ham Mar­tin und die meis­ten ame­ri­ka­ni­schen Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen wur­den aller­dings schon vor­her mit den mar­kan­ten Hub­schrau­bern des Typs CH-46 aus­ge­flo­gen, im Fall des Bot­schaf­ters mit Anwei­sun­gen, ihn zur Not mit Zwang mit­zu­neh­men. Bei einem vor­he­ri­gen Flug hat­te er sich näm­lich gewei­gert, ein­zu­stei­gen, und sei­nen Platz ande­ren über­las­sen. Die­sem Anstand steht aller­dings gegen­über, dass Mar­tin die Dring­lich­keit der Situa­ti­on vor­her voll­kom­men unter­schätzt hatte.

Der gegen­wär­ti­ge ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Biden hat sich am 8. Juli zu einem unklu­gen Ver­spre­chen hin­rei­ßen las­sen, dem eben­falls eine Fehl­ein­schät­zung der Situa­ti­on zugrun­de lag: Auf die Fest­stel­lung einer Jour­na­lis­tin, dass sich man­che Vete­ra­nen des Viet­nam­kriegs von den Umstän­den des Abzugs an den Fall von Sai­gon erin­nert sähen, ver­sprach er: „Es wird kei­ne Umstän­de geben, unter denen Sie Men­schen vom Dach einer Bot­schaft der Ver­ei­nig­ten Staa­ten aus Afgha­ni­stan abge­holt sehen werden.“

Sogar die Num­mern der Hub­schrau­ber sind fast identisch

Damit wur­de es nun nichts. Kabul ist von den Tali­ban ein­ge­nom­men, und der ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaf­ter ver­ließ die Bot­schaft, die vor gera­de ein­mal vier Jah­ren für rund 800 Mil­lio­nen Dol­lar fer­tig­ge­stellt wur­de, mit einem Hub­schrau­ber des Typs CH-46, genau dem glei­chen Trans­port­mit­tel wie sein Vor­gän­ger in Saigon.

Sogar die lau­fen­den Num­mern der bei­den Hub­schrau­ber sind fast iden­tisch: Mar­tins Hub­schrau­ber der Mari­ne­infan­te­rie hat­te die Num­mer 154803. Der Hub­schrau­ber, der den ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ter in Afgha­ni­stan Ross Wil­son in Sicher­heit brach­te, gehört jetzt dem Außen­mi­nis­te­ri­um, hieß aber frü­her bei der Mari­ne­infan­te­rie 154038. Er wur­de übri­gens im Dezem­ber 1967 in Dienst gestellt und ist damit drei Mona­te län­ger im Dienst als der mitt­ler­wei­le im Muse­um ste­hen­de Hub­schrau­ber der Flucht aus Sai­gon.

 Die Typ­gleich­heit und Ähn­lich­keit der Seri­en­num­mern die­ser bei­den Luft­fahr­zeu­ge ist natür­lich in gewis­ser Wei­se zufäl­lig, aber Bil­der und Zufäl­lig­kei­ten haben eine sym­bo­li­sche Macht. Ame­ri­ka ver­lässt Kabul wie es Sai­gon ver­las­sen hat, als Gewin­ner von Schlach­ten aber Ver­lie­rer des Krie­ges, und selbst eines wür­de­vol­len Abzugs als Ergeb­nis von Waf­fen­still­stands­ver­hand­lun­gen durch den Lauf der Ereig­nis­se beraubt.

Fast schon Qua­li­tä­ten von Comic­al Ali

Auf die­se offen­sicht­li­che Ähn­lich­keit nicht nur in den Umstän­den, son­dern sogar in den kon­kre­ten Bil­dern ange­spro­chen, geriet Außen­mi­nis­ter Blin­ken ins Strau­cheln und behaup­te­te Erfolg, wo offen­sicht­lich kei­ner ist:

Las­sen Sie uns einen Schritt zurück­tre­ten. Das ist ein­deu­tig nicht Sai­gon. Die Tat­sa­chen sind fol­gen­de: Vor zwan­zig Jah­ren sind wir nach Afgha­ni­stan gegan­gen, mit einer Ziel­set­zung, und das war, uns um die Leu­te zu küm­mern, die uns am 11. Sep­tem­ber ange­grif­fen haben, und die­ser Ein­satz war erfolg­reich. Vor einem Jahr­zehnt haben wir bin Laden der Gerech­tig­keit zuge­führt. Al Qai­da, die Grup­pe die uns ange­grif­fen hat, wur­de enorm geschwächt. Ihre Fähig­keit, uns wie­der aus Afgha­ni­stan anzu­grei­fen, wur­de – exis­tiert zur­zeit nicht, und wir wer­den sicher­stel­len, dass wir in der Regi­on die Fähig­kei­ten, die not­wen­di­gen Streit­kräf­te bei­be­hal­ten wer­den, für den Fall, dass wir ein Wie­der­auf­tau­chen einer ter­ro­ris­ti­schen Bedro­hung sehen wer­den und um uns dar­um küm­mern zu kön­nen. Dar­an gemes­sen, was wir in Afgha­ni­stan tun woll­ten, haben wir es getan.

Ant­o­ny Blin­ken auf ABC, 15. August 2021

Das hat fast schon Qua­li­tä­ten der berühm­ten letz­ten Pres­se­kon­fe­renz des ira­ki­schen Medi­en- und Außen­mi­nis­ters Muham­mad as-Sah­haf, bes­ser bekannt als ‚Comic­al Ali‘, der noch Erfolg ver­kün­de­te, als man im Hin­ter­grund sei­ner Pres­se­kon­fe­renz bereits ame­ri­ka­ni­sches Kriegs­ge­rät rol­len hören konn­te.  Frei­lich, al Qai­da wur­de mili­tä­risch neu­tra­li­siert, aber das war im Grun­de nach zwei Mona­ten mit der Schlacht von Tora Bora ent­schie­den. Osa­ma ent­wisch­te und wur­de nicht in Afgha­ni­stan son­dern in Paki­stan neu­tra­li­siert. Das Ziel der ver­gan­ge­nen zwan­zig Jah­re, in Afgha­ni­stan irgend­wie geord­ne­te Staat­lich­keit mit Ele­men­ten eines libe­ra­len und demo­kra­ti­schen Natio­nal­staats zu errich­ten, wur­de ganz offen­sicht­lich ver­fehlt, mit drei­ein­halb­tau­send Toten auf Sei­ten der Koali­ti­ons­trup­pen und zwei Bil­lio­nen Dol­lar nur an ame­ri­ka­ni­schen Kosten.

Sai­gon wur­de ver­tei­digt, Kabul nicht

So nahe­lie­gend der Ver­gleich zwi­schen dem Ende der Krie­ge in Viet­nam und Afgha­ni­stan auch ist, fällt aller­dings auch ein Unter­schied ins Auge. Die ame­ri­ka­ni­sche Stra­te­gie im Viet­nam­krieg litt von Anfang an der Her­aus­for­de­rung der „Viet­na­mi­sie­rung“ des Kon­flikt, also dem Pro­blem, wie man die Süd­viet­na­me­sen, die man ver­tei­di­gen woll­te, zum Mit­tun bewe­gen konn­te, und in Afgha­ni­stan hat­te man das­sel­be Problem.

Trotz­dem wur­de Sai­gon vor sei­nem Fall hart umkämpft, in der Schlacht von Xuan Loc von 6.000 Süd­viet­na­me­sen, die sich 40.000 Nord­viet­na­me­sen gegen­über­sa­hen und elf Tage aus­ge­hal­ten haben. Sie ver­lo­ren dabei knapp die Hälf­te ihrer Mann­stär­ke, füg­ten den kom­mu­nis­ti­schen Trup­pen aber die dop­pel­ten Ver­lus­te zu, zu deren erheb­li­cher Überraschung.

Die Bil­der aus Kabul zeu­gen dage­gen davon, dass ein Ver­tei­di­gungs- und Wider­stands­wil­le schlicht nicht vor­han­den ist. Die Trup­pen und die Poli­zei schei­nen sich ihrer Uni­for­men ent­le­digt zu haben. Die Tali­ban mar­schie­ren nicht ein, kämp­fen sich schon gar nicht vor, son­dern fah­ren ein­fach leicht bewaff­net auf offe­nen Fahr­zeu­gen und schwäch­li­chen Motor­rä­dern in die Stadt. Das macht man nur, wenn man sich sehr sicher ist, dass einem nicht ein­mal Gewehr­ku­geln ent­ge­gen­kom­men, und die Tali­ban haben mit die­ser Annah­me offen­bar recht behal­ten. Der Prä­si­dent Aschraf Gha­ni hat sich abge­setzt, und auch sonst ver­spürt nie­mand die Nei­gung, die Stadt zu halten.

Die Rache der Sieger

Damit bleibt wie in Viet­nam das letz­te Kapi­tel des Kon­flik­tes, das der Orts­an­säs­si­gen, die die Rache der Sie­ger zu fürch­ten haben. Die west­li­chen Staa­ten wer­den eini­ge davon auf­neh­men und ande­re nicht. Wie exzes­siv die Rache der Tali­ban aus­fal­len wird, wird man sehen, wenn die gera­de noch zur Siche­rung des Abzugs kurz­fris­tig ver­stärk­ten west­li­chen Trup­pen abge­zo­gen sein wer­den. Auf einen Kampf gegen regu­lä­re Trup­pen, die in zwei Wochen eh weg sein wer­den, las­sen sich die Got­tes­krie­ger in San­da­len auf Mopeds hof­fent­lich nicht ein. Was sie mit den Ver­zwei­fel­ten am Flug­ha­fen machen wer­den, wenn der letz­te Flie­ger weg ist, steht auf einem ande­ren Blatt.

Zwan­zig Jah­re in Afgha­ni­stan haben immense Ver­lus­te gebracht, aber sicher auch Aben­teu­er, von denen viel­leicht der­einst eines zu einem Musi­cal ver­wurs­tet wird. Die letz­te C‑130 aus Kabul wird frei­lich zu groß für die Büh­ne sein. Bis dahin bleibt die Ein­sicht, dass man nicht auf mili­tä­ri­schem Wege von außen eine Nati­on schaf­fen kann, die in den Köp­fen ihrer Ange­hö­ri­gen, nament­lich in der Bereit­schaft, sie zu ver­tei­di­gen, nicht exis­tiert. Das hät­te man sich natür­lich schon aus Viet­nam mer­ken können.

Die­ser Bei­trag erschien zuerst auf achgut.com. Pho­to: US Marines.