Nixon und Biden

Der 15. August hat das Zeug zu einem Schlüs­sel­tag der ame­ri­ka­ni­schen Geschich­te. Vor fünf­zig Jah­ren ver­kün­de­te Richard Nixon die Schlie­ßung des Gold­fens­ters und damit das Ende des Bret­ton-Woods-Sys­tems. Mit des­sen Abwick­lung und der des Viet­nam­kriegs über­wand er die alte Ord­nung, und sein Gang nach Chi­na schuf die Grund­la­de einer neu­en. Joe Bidens Pres­se­kon­fe­renz zum Abzug aus Afgha­ni­stan dage­gen mar­kiert ihn zunächst als begrenzt kom­pe­ten­ten Epi­go­nen. Er hat aber noch Zeit.

Manch­mal fal­len his­to­ri­sche Jah­res­ta­ge zufäl­lig und doch nicht ganz zufäl­lig auf den glei­chen Kalen­der­tag. Als ich in Ame­ri­ka deut­sche Geschich­te unter­rich­tet habe, habe ich den Stu­den­ten die Bedeu­tung des 9. Novem­ber mit­ge­ge­ben. Der 15. August hat das Zeug, zwei gro­ße ame­ri­ka­ni­sche Nie­der­la­gen und Neu­an­fän­ge im Abstand von genau einem hal­ben Jahr­hun­dert zu mar­kie­ren. Bei­de nah­men ihren Aus­gang vom Som­mer­sitz des ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten, Camp David, und bei­de wur­den dem ame­ri­ka­ni­schen Volk durch Fern­seh­an­spra­chen ihres Prä­si­den­ten erklärt.

Das alte Sys­tem war nicht mehr zu halten

Am 15. August 1971 hat sich Richard Nixon aus dem Som­mer­ur­laub gemel­det und im Fern­se­hen die Auf­he­bung der Gold­kon­ver­ti­bi­li­tät des Dol­lars ver­kün­det, auch bekannt als ‚die Schlie­ßung des Gold­fens­ters‘ oder auch als der ‚Nixon-Schock‘. Der Prä­si­dent gab sich füh­rungs­stark und verkündete:

Die Gewin­ner [von regel­mä­ßi­gen Wäh­rungs­kri­sen] sind die inter­na­tio­na­len Geld­spe­ku­lan­ten. Weil es ihnen durch Kri­sen gut­geht, hel­fen sie, sie zu erzeu­gen. In den ver­gan­ge­nen Wochen haben die Spe­ku­lan­ten einen unbe­grenz­ten Krieg gegen den ame­ri­ka­ni­schen Dol­lar geführt. Die Stär­ke der Wäh­rung einer Nati­on basiert auf der Stär­ke der Wirt­schaft die­ser Nati­on, und die ame­ri­ka­ni­sche Wirt­schaft ist mit Abstand die stärks­te der Welt.

Daher habe ich habe den Finanz­mi­nis­ter ange­wie­sen, die nöti­gen Hand­lun­gen zu unter­neh­men, um den Dol­lar gegen die Spe­ku­lan­ten zu ver­tei­di­gen. Ich habe Minis­ter Conn­al­ly ange­wie­sen, zeit­wei­lig die Kon­ver­ti­bi­li­tät des Dol­lars in Gold oder ande­re Reser­ven auf­zu­he­ben, außer in sol­chen Men­gen und zu sol­chen Bedin­gun­gen […] die im Inter­es­se der Geld­sta­bi­li­tät und im Inter­es­se der Ver­ei­nig­ten Staa­ten liegen.

Nun, was bedeu­tet die­ser Schritt, der sehr tech­nisch ist, […] für Sie? Las­sen sie mich das beer­di­gen, was man das Schreck­ge­spenst der Geld­ent­wer­tung nennt. Wenn Sie ein aus­län­di­sches Auto kau­fen oder eine Rei­se ins Aus­land unter­neh­men wol­len, dann kön­nen die Markt­be­din­gun­gen dazu füh­ren, dass ihr Dol­lar etwas weni­ger kauft, aber wenn Sie der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit der Ame­ri­ka­ner ange­hö­ren, die ame­ri­ka­ni­sche Pro­duk­te in Ame­ri­ka kau­fen, dann wird Ihr Dol­lar mor­gen genau so viel wert sein wie heu­te. Der Effekt die­ser Akti­on wird in ande­ren Wor­ten sein, den Dol­lar zu stabilisieren.

Richard Nixon, 15.08.1971

Damit beer­dig­te Nixon zwar nicht wie ver­spro­chen das Schreck­ge­spenst der Infla­ti­on, das in den Sieb­zi­gern fröh­li­che Urständ fei­ern durf­te, wohl aber das Wäh­rungs­sys­tem vom Bret­ton Woods, das zusam­men mit der ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär­macht die Grund­la­ge der Nach­kriegs­ord­nung der frei­en Welt gewe­sen war.

Die­ses Sys­tem der fixen Wech­sel­kur­se war schon aus ande­ren Grün­den nicht mehr zu hal­ten, aber das enor­me ame­ri­ka­ni­sche Leis­tungs­bi­lanz­de­fi­zit im Gefol­ge des Viet­nam­kriegs gab ihm den Rest, so dass der Ver­fall bei­der Grund­pfei­ler mit­ein­an­der zusam­men­hing. Andert­halb Jah­re nach der Schlie­ßung des Gold­fens­ters wur­den die fixen Wech­sel­kur­se offi­zi­ell auf­ge­ge­ben, Ame­ri­ka­ner durf­ten wie­der Gold als Inves­ti­ti­on besit­zen, was ihnen seit 1933 ver­bo­ten war, und die ehe­ma­li­ge Kriegs­ver­lie­rer­wäh­rung D‑Mark begann ihren Auf­stieg in einem Kon­zert der Reservewährungen.

Zwei Jahr­zehn­te Euro und Afghanistankrieg

Es ist ein Zei­chen, wie schnell die Zeit ver­geht, dass nun schon fast die Hälf­te der Zeit seit dem Ende von Bret­ton Woods nicht mehr die D‑Mark euro­päi­sche Leit­wäh­rung ist, son­dern mit der Umstel­lung auf den Euro im Jah­re 1998 ein neu­es euro­päi­sches Sys­tem an ihre Stel­le getre­ten ist, wäh­rend der Dol­lar zwar wei­ter­hin Leit­wäh­rung ist, aber sei­ne wirt­schaft­li­che Dyna­mik und die Finan­zie­rung andau­ern­der ame­ri­ka­ni­scher Leis­tungs­bi­lanz­de­fi­zi­te mit einer ande­ren Ent­schei­dung des dama­li­gen ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten zusam­men­hängt, Richard Nixons Gang nach Chi­na 1972, wel­ches Land heu­te die­se Finan­zie­rung übernimmt.

Die Finanz­märk­te nah­men Nixons Ankün­di­gung posi­tiv auf. Der dama­li­ge Leit­in­dex des ame­ri­ka­ni­schen Akti­en­markts, der Dow-Jones, hat­te nach Öff­nung der Märk­te am Mon­tag mit 33 Punk­ten sei­nen bis dahin größ­ten Anstieg eines Tages. Letzt­lich hat­te Nixon aner­kannt, was ohne­hin schon bekann­te Rea­li­tät war, näm­lich dass das Gold­fens­ter schon lan­ge eine Illu­si­on und die Wech­sel­kur­se schon lan­ge nicht mehr fix waren.

Fast genau­so alt wie der Euro ist der Krieg in Afgha­ni­stan im Gefol­ge der Anschlä­ge vom 11. Sep­tem­ber 2001. Die­se fast genau zwan­zig Jah­re fal­len mit der Zeit zusam­men, die ein ame­ri­ka­ni­scher Sol­dat die­nen muss, bevor er sich sei­nen Ruhe­stand mit einer Pen­si­on ver­dient hat, so dass Ame­ri­kas längs­ter Krieg ein gan­zes Sol­da­ten­le­ben aus­fül­len konnte.

Ein „anstän­di­ger Zeitabstand“

Im ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf des ver­gan­ge­nen Jah­res waren sich bei­de Kan­di­da­ten einig, die­sen Krieg, der Dau­er­zu­stand gewor­den war, zum Abschluss brin­gen zu wol­len. Donald Trump hat­te in den Doha-Gesprä­chen einen ame­ri­ka­ni­schen Abzug bis zum Mai 2021 ver­ein­bart, wäh­rend die afgha­ni­sche Regie­rung und die Tali­ban sich auf einen Frie­den eini­gen und Gefan­ge­ne aus­tau­schen soll­ten. Sein Nach­fol­ger Joe Biden brauch­te etwas mehr Zeit und hat aus uner­find­li­chen Grün­den den Stich­tag auf den sym­bol­träch­ti­gen 11. Sep­tem­ber gelegt, ein selbst­ge­wähl­tes Jubi­lä­um der Niederlage.

Wäh­rend Richard Nixon für den Abzug aus dem Krieg, den er von sei­nen Vor­gän­gern geerbt hat­te, in der Lage war—unter Ein­satz mas­si­ver stra­te­gi­scher Bom­bar­die­rung als Ver­hand­lungs­ar­gu­ment und nach der erfolg­rei­chen Abwehr der Tet-Offensive—einen gesichts­wah­ren­den „anstän­di­gen Zeit­ab­stand“ zwi­schen dem ame­ri­ka­ni­schen Abzug und dem Fall Süd­viet­nams zu ver­han­deln, war das Joe Biden in Afgha­ni­stan nicht vergönnt.

Kör­per­tei­le im Fahrwerk

Am Sonn­tag, den 15. August, sah man unglaub­li­che Bil­der aus Kabul, die teil­wei­se wirk­ten, als hät­te ein Cho­reo­graph den über­has­te­ten ame­ri­ka­ni­schen Abzug aus Sai­gon nach fünf Jahr­zehn­ten nach­ge­stellt. Selbst der Hub­schrau­ber, mit dem der Bot­schaf­ter in Sicher­heit gebracht wur­de, war nicht nur typ­gleich mit dem in Sai­gon benutz­ten, son­dern sogar noch drei Mona­te älter. Der Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken hat­te in meh­re­ren Fern­seh­in­ter­views einen schwe­ren Stand und über­zeug­te wenig, als er den Kriegs­aus­gang als Erfolg und Errei­chung der Kriegs­zie­le ver­kau­fen wollte.

Am gest­ri­gen Mon­tag wach­ten die Ame­ri­ka­ner dann zu noch mehr bizar­ren Bil­dern aus Kabul auf. Die Tali­ban fuh­ren in die Haupt­stadt, ohne auf irgend­wel­che sicht­ba­re Gegen­wehr zu sto­ßen, und mach­ten es sich im Palast des geflo­he­nen Prä­si­den­ten gemüt­lich. Sogar im Fit­ness­stu­dio des Prä­si­den­ten­pa­lasts film­ten sie sich, ohne dabei eine beson­ders sport­li­che Figur abzu­ge­ben, die Far­ce zur Tra­gö­die der unge­hin­der­ten Ein­nah­me eines Landes.

Am Flug­ha­fen von Kabul spiel­ten sich unglaub­li­che Sze­nen ab. Den inter­na­tio­na­len Trup­pen, die ihn sichern sol­len, ent­glitt die Kon­trol­le, und das Vor­feld war über­füllt mit Men­schen, die sich sogar noch an star­ten­de Flug­zeu­ge klam­mern woll­ten. Zwei haben es in die Fahr­werks­käs­ten einer star­ten­den C‑17 geschafft oder sich irgend­wie außen fest­ge­hal­ten, fie­len dann aber schnell in ihren Tod, auf Pho­tos fest­ge­hal­ten. (Das wird immer wie­der ver­sucht und ist bei moder­nen Flug­zeu­gen mit ihren enor­men Flug­hö­hen meis­tens töd­lich, auch wenn man sich fest­hal­ten kann.) Eine C‑17 (ob die glei­che oder nicht ist unklar) muss­te offen­bar in einem Dritt­land eine Sicher­heits­lan­dung ein­le­gen, weil zer­quetsch­te Kör­per­tei­le eines blin­den Pas­sa­giers das Ein­zie­hen des Fahr­werks ver­hin­der­ten. Die Ame­ri­ka­ner muss­ten mit Kampf­hub­schrau­bern im tie­fen Über­flug wenigs­tens Men­schen von den Start­bah­nen ver­trei­ben.

Vor zehn Jah­ren mutig, heu­te offensichtlich

Auf­fäl­lig ist, dass es sich bei den ver­zwei­fel­ten Flucht­wil­li­gen offen­bar um Män­ner im wehr­fä­hi­gen Alter han­delt, von denen kei­ner ver­sucht hat, die Stadt zu ver­tei­di­gen. Die­se Sze­nen des Zusam­men­bruchs mar­kie­ren das voll­stän­di­ge Schei­tern des zwan­zig­jäh­ri­gen Ver­suchs, in Afgha­ni­stan eine irgend­wie gear­te­te Sta­bi­li­tät zu errei­chen, wel­cher die Ame­ri­ka­ner tau­sen­de Tote und Bil­lio­nen Dol­lar gekos­tet hat.

Nach die­sem Schei­tern muss­te auch Prä­si­dent Joe Biden, der wie wei­land Richard Nixon auf Camp David resi­dier­te, vor die Kame­ras tre­ten. Wäh­rend man beim auf sei­nen Notiz­blö­cken intel­li­gen­ten und nach­denk­li­chen, vor den Kame­ras aber unbe­hol­fe­nen Nixon aber von einer bewuss­ten Aus­nut­zung Ruhe im Som­mer für eine Ankün­di­gung aus­ge­hen kann, die für ihre Wir­kung über­ra­schend sein muss­te, wur­de Biden von den Ereig­nis­sen getrie­ben. Am Mor­gen hieß es, dass er um 15:45 Ost­küs­ten­zeit aus Washing­ton zur Nati­on spre­chen wür­de, was dann mit gerin­ger Ver­zö­ge­rung auch passierte.

Sei­ne Rede hat Prä­si­dent Biden, dem nur begrenz­te Zeit zur Vor­be­rei­tung blieb, gut gehal­ten. Sei­ne Stim­me wirk­te stark und ent­schlos­sen, die Rede schlüs­sig, er hat­te kei­ne Aus­set­zer und nur zwei oder drei klei­ne Ver­haspler. Er reka­pi­tu­lier­te die Vor­ge­schich­te, die Ver­ein­ba­run­gen sei­nes Amts­vor­gän­gers zum Abzug bis Mai, den Umstand, dass er schon als vier­ter Prä­si­dent die­sem Krieg vor­sit­ze, und den Man­gel an Aus­sich­ten eines wei­te­ren Enga­ge­ments. Der Kern sei­nes Argu­ments und der stärks­te Teil sei­ner Rede war die offen­sicht­li­che Fra­ge des Afgha­ni­stan-Ein­sat­zes und sei­ne Ant­wort darauf:

Damit bleibt mir wie­der, die­je­ni­gen, die argu­men­tie­ren, dass wir blei­ben sol­len, zu fra­gen, wie vie­le Gene­ra­ti­on von Ame­ri­kas Söh­nen und Töch­tern ich schi­cken soll, um im afgha­ni­schen Bür­ger­krieg zu kämp­fen wäh­rend die afgha­ni­schen Trup­pen nicht kämp­fen? Wie vie­le Leben, ame­ri­ka­ni­sche Leben, ist es wert? Wie vie­le end­lo­se Rei­hen von Grab­stei­nen auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Arlington?

Ich habe eine kla­re Ant­wort. Ich wer­de die Feh­ler nicht wie­der­ho­len, die wir in der Ver­gan­gen­heit gemacht haben. Den Feh­ler, auf unab­seh­ba­re Zeit in einem Kon­flikt zu ver­blei­ben und zu kämp­fen, der nicht im natio­na­len Inter­es­se der Ver­ei­nig­ten Staa­ten liegt. Den Feh­ler, in einem Bür­ger­krieg in einem frem­den Land unse­ren Ein­satz zu ver­dop­peln, zu ver­su­chen, ein Land durch den end­lo­sen Ein­satz ame­ri­ka­ni­scher Trup­pen umzu­ge­stal­ten. Das sind die Feh­ler, die wir nicht mehr wie­der­ho­len kön­nen, denn wir haben bedeu­ten­de vita­le Inter­es­sen in der Welt, die wir nicht igno­rie­ren können. […]

Ich kann und wer­de von unse­ren Trup­pen nicht ver­lan­gen, end­los in dem Bür­ger­krieg eines ande­ren Lan­des zu kämp­fen, Ver­lus­te hin­zu­neh­men, lebens­zer­stö­ren­de Ver­let­zun­gen zu erlei­den, Fami­li­en vom Schmerz und Ver­lust zer­stört allei­ne zu las­sen. Das liegt nicht im Inter­es­se unse­rer natio­na­len Sicher­heit. Das ist nicht, was das ame­ri­ka­ni­sche Volk will. Es ist nicht, was unse­re Trup­pen, die über die letz­ten bei­den Jahr­zehn­te sol­che Opfer brach­ten, verdienen.

Joe Biden, 16.08.2021

Vor neun­zehn Jah­ren oder auch vor zehn, nach der Erle­di­gung Osa­mas und damit des letz­ten Teils des unmit­tel­ba­ren Kriegs­grun­des, wäre das eine muti­ge Rede gewe­sen. Jetzt fass­te sie nur das Offen­sicht­li­che zusam­men. Der ame­ri­ka­ni­sche Abzug war nicht nur prak­tisch unwi­der­ruf­lich, son­dern auch von den Ereig­nis­sen über­holt wor­den. Dar­in wie­der hat­te Bidens Rede Ähn­lich­keit mit der Nixons—böse Zun­gen wür­den sagen auch mit Gün­ther Schab­ow­skis berühm­ter Pressekonferenz—denn sie kün­dig­ten ledig­lich Schrit­te an, die von den Ereig­nis­sen längst vor­ge­ge­ben waren und zu denen Alter­na­ti­ven nicht mehr wirk­lich in ihrer Macht standen.

Zu den chao­ti­schen Umstän­den des Rück­zugs äußer­te sich Biden nicht wei­ter, beant­wor­te­te auch kei­ne Fra­gen dazu. In gewis­ser Wei­se war das sicher ange­mes­sen, denn für die Detail­pla­nung des Abzugs oder auch die genaue Ein­schät­zung des Tem­pos, mit dem Kabul kol­la­bie­ren wür­de, ist der Prä­si­dent nicht zustän­dig. Die dafür zustän­di­gen Leu­te zu beschul­di­gen wäre unan­ge­mes­sen gewe­sen, offen­sicht­lich ist die Fehl­ein­schät­zung ohne­hin, und machen kann man auch nichts. Als ein­zel­nes Ereig­nis wird Biden die Vor­gän­ge in Kabul bei all ihrer Sym­bol­kraft ver­mut­lich gut über­ste­hen solan­ge nicht etwas pas­siert, bei dem aus bizar­ren Bil­dern wirk­lich grau­sa­me wer­den, bei­spiels­wei­se wenn die Benut­zung des Flug­ha­fens von Kabul nur durch mas­si­ve Gewalt gegen Men­schen­men­gen gesi­chert wer­den könn­te oder es noch zu einem Ereig­nis wie in Bei­rut 1983 käme.

Eine „Kri­se der Kompetenz“

Trotz­dem bleibt auf der Regie­rung Biden eine Last sit­zen. Chris Cil­liz­za beim nor­ma­ler­wei­se streng Biden-freund­li­chen Nach­rich­ten­sen­der CNN nennt Bidens Schei­tern in Afgha­ni­stan eine „Kri­se der Kom­pe­tenz“ und reiht sie in eine Rei­he von schlecht geplan­ten Vor­gän­gen, die am Ver­trau­en in den Prä­si­den­ten zeh­ren, ein. Biden war kein Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat der Her­zen. Sei­nen Wahl­kampf hat er lau­warm und aus dem Kel­ler bestrit­ten. Inhalt­lich oft gar nicht so weit vom vor­he­ri­gen Amts­in­ha­ber ent­fernt konn­te er nicht die Neu­lin­ken begeis­tern, für die sei­ne wesent­li­che posi­ti­ve Eigen­schaft ledig­lich war, nicht Donald Trump zu hei­ßen, und den Gemä­ßig­ten in den Vor­or­ten ver­sprach er im Wesent­li­chen Ruhe und Rück­kehr zum nor­ma­len Politikbetrieb.

Die bizar­ren Skan­da­le um Ein­fluss, des­sen Ver­kauf für Geld, und des­sen Benut­zung zum Kauf von Dro­gen sei­nes Soh­nes Hun­ter, wel­che die­ser sogar für wei­te­res Geld in einem Buch aus­walz­te, hal­fen nicht. Die Imp­fun­gen gegen Covid-19, die ein Kern­stück der Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät wer­den soll­ten, hin­ken nach schnel­len Erfol­gen, die man wohl eher noch der Prä­si­dent­schaft Donald Trumps zuschrei­ben darf, den Vor­ga­ben hin­ter­her. Die Gewalt­kri­mi­na­li­tät in den Städ­ten nach der Agi­ta­ti­on gegen die Poli­zei letz­tes Jahr nimmt zu, die Gren­ze zu Mexi­ko, das bekann­tes­te The­ma Donald Trumps, gerät Biden zuneh­mend außer Kon­trol­le, und die Infla­ti­ons­er­war­tun­gen stei­gen ange­sichts der unfi­nan­zier­ba­ren innen­po­li­ti­schen Umver­tei­lungs­pro­jek­te. Bidens Zustim­mungs­wer­te in Umfra­gen sind schon vor dem Desas­ter von Kabul leicht gesun­ken, auch wenn das für den ers­ten Som­mer eines neu­en Prä­si­den­ten ziem­lich nor­mal ist. Ins­ge­samt wirkt Biden poli­tisch abwe­send und getrie­ben, was durch sei­nen Som­mer­auf­ent­halt auf Camp David wäh­rend die Situa­ti­on in Afgha­ni­stan völ­lig ent­glitt nicht bes­ser wurde.

Die Finanz­märk­te war­te­ten auch gar nicht auf die Rede des Prä­si­den­ten. Nach einem Ein­bruch zum Han­dels­auf­takt erreich­te der S&P 500 einen neu­en Höchst­stand, und der Vola­ti­li­täts­in­dex VIX, ein Maß für Unsi­cher­heit an den Finanz­märk­ten, sprang zum Han­dels­auf­takt und sank dann wie­der schnell und gleich­mä­ßig im Tages­ver­lauf ab.

„Ein betrun­ke­ner Typ mit einem Taschenmesser“

Poli­ti­ker bei­der Par­tei­en nah­men, wohl auch ange­sichts der schon wie­der ins Blick­feld kom­men­den Zwi­schen­wah­len nächs­tes Jahr, eher Abstand von ihrem Prä­si­den­ten. Demo­kra­ti­sche wie repu­bli­ka­ni­sche Poli­ti­ker distan­zie­ren sich von der huma­ni­tä­ren Kri­se, die in den Sze­nen vom Kabu­ler Flug­ha­fen offen­sicht­lich wird, und bekla­gen die offen­bar schlech­te Vor­be­rei­tung des Abzugs. Nach­voll­zieh­ba­rer­wei­se ist die Kri­tik der Repu­bli­ka­ner här­ter vor­ge­tra­gen als die der Demo­kra­ten, aber unzu­frie­den sind bei­de. Die repu­bli­ka­ni­sche Abge­ord­ne­te Liz Che­ney, Toch­ter des ehe­ma­li­gen Vize­prä­si­den­ten, hol­te gleich sowohl gegen Trump als auch gegen Biden aus. Der kon­ser­va­ti­ve Kom­men­ta­tor Tucker Carlson dage­gen stimm­te dem Abzug als sol­chem als über­fäl­lig und drin­gend not­wen­dig zu, stell­te sich aber ange­sichts der Pro­ble­me in der Umset­zung die Fra­ge: „Wenn Sie erfüh­ren, dass sie als Not­fall eine Blind­darm­ope­ra­ti­on bräuch­ten, wäre es ihnen wich­tig, wer die Ope­ra­ti­on vor­nimmt: Ein Chir­urg mit einem Skal­pell oder ein betrun­ke­ner Typ mit einem Taschenmesser?“

Mit den Fal­ken, die gegen den ame­ri­ka­ni­schen Abzug als sol­chen waren, wie Lind­sey Gra­ham, der Biden den Ver­lust des Krie­ges und den Tod der Afgha­nen, wel­che der Rache der Tali­ban anheim­fal­len wer­den, vor­warf, wird Biden recht gut umge­hen kön­nen. Das Ende des Enga­ge­ments in Afgha­ni­stan war Kon­sens zwi­schen Biden und Trump. Die Gegen­vor­stel­lung, dass eine klei­ne ame­ri­ka­ni­sche Trup­pen­prä­senz auf Dau­er Afgha­ni­stan hät­te sta­bi­li­sie­ren kön­nen, scheint spä­tes­tens durch den kampf­lo­sen Kol­laps des afgha­ni­schen Staa­tes wider­legt, so dass man spä­tes­tens jetzt sagen kann, dass eine sol­che Prä­senz sehr wahr­schein­lich ent­we­der in einem Abzug wie jetzt, nur spä­ter, oder in einem Abzug unter Feu­er oder in einem erneu­ten inten­si­vier­ten Enga­ge­ment mit neu­en Ver­lus­ten geen­det hät­te. Die Ame­ri­ka­ner wün­schen das nicht.

Geerb­te Pro­ble­me und Neuanfang

Frei­lich, all die wesent­li­chen Pro­ble­me von Bidens Prä­si­dent­schaft sind geerbt. Er hat den Krieg in Afgha­ni­stan nicht ange­fan­gen und nicht unter­las­sen, ihn nach Errei­chen der eigent­li­chen Kriegs­zie­le zu been­den. Er hat nicht Covid-19 in die Welt gebracht, die Süd­gren­ze ist ein Dau­er­pro­blem, das auch Donald Trump nicht wirk­lich lösen konn­te, und Orgi­en von Staats­aus­ga­ben als Heil­mit­tel für alle Pro­ble­me mit erheb­li­cher Kater­wir­kung sind ein Dau­er­zu­stand unter bei­den Par­tei­en. Die kul­tur­kämp­fe­ri­schen Pro­jek­te um das Abbren­nen von Innen­städ­ten und die Ein­füh­rung immer exo­ti­sche­rer sexu­el­ler und ande­rer Iden­ti­tä­ten bringt man zwar mit der Demo­kra­ti­schen Par­tei, aber nicht mit dem Namen Biden in Ver­bin­dung. Auch für die Pein­lich­kei­ten und Skan­da­le in sei­ner Fami­lie kann man bei den unver­schul­de­ten Schick­sals­schlä­gen, die die Fami­lie tra­fen, ein gewis­ses Ver­ständ­nis aufbringen.

Epi­go­ne mit begrenz­ter Kompetenz

Richard Nixons Abwick­lung des Viet­nam­kriegs und die des Bret­ton-Woods-Sys­tems durch die Schlie­ßung des Gold­fens­ters am 15. August vor fünf­zig Jah­ren waren die Abwick­lung des Nach­kriegs­sys­tems der frei­en Welt, das sich über­lebt hat­te und in sei­nen Pro­ble­men so nicht mehr zu hal­ten war. Sein Gang nach Chi­na und die Ein­füh­rung frei­er Wech­sel­kur­se wur­den grund­le­gend für den Zer­fall des kom­mu­nis­ti­schen Blocks und damit indi­rekt das Ende des Kal­ten Kriegs sowie für die Peri­ode des Frei­han­dels, der erneu­ten Pax Ame­ri­ca­na, und der fol­gen­den Pro­spe­ri­tät, also das, was man ger­ne ‚Glo­ba­li­sie­rung‘ nennt. Das Ende von Nixons Prä­si­dent­schaft, ange­trie­ben vom nicht immer unbe­grün­de­ten Miss­trau­en gegen feind­se­li­ge Eli­ten, war unrühm­lich, aber bis zu sei­nem Tod 1994 erhielt er auch wie­der mehr Aner­ken­nung für rich­tungs­wei­sen­de Entscheidungen.

Prä­si­dent Biden dage­gen erscheint als Epi­go­ne, der sei­ne geerb­ten und soweit unver­schul­de­ten Kri­sen ledig­lich mit begrenz­ter Kom­pe­tenz verwaltet.

Mor­gen in Amerika?

Geor­ge W. Bushs Visi­on, auf mili­tä­ri­schem Wege libe­ra­le Demo­kra­tien als Leucht­turm­pro­jek­te in der isla­mi­schen Welt zu instal­lie­ren, und so eine libe­ra­le, glo­ba­li­sier­te Gesell­schaft als Ant­wort auf die Angrif­fe des 11. Sep­tem­ber zu geben, damit das Fukuyama’sche Ende der Geschich­te doch noch gegen den Huntington’schen Kampf der Kul­tu­ren  zu erzwin­gen, ist die­sen 15. August geschei­tert. Eine neue Ant­wort des Prä­si­den­ten Biden auf die­se Her­aus­for­de­run­gen ist nicht zu erken­nen, son­dern ledig­lich der Vor­sitz der Abwick­lung des Scheiterns.

Bidens Vor­gän­ger Donald Trump als Außen­sei­ter­prä­si­dent war die Reak­ti­on auf ande­re Pro­ble­me des Zeit­al­ters der Glo­ba­li­sie­rung, ins­be­son­de­re die von den ein­fa­chen Leu­ten emp­fun­de­ne Gefähr­dung ihres Lebens­stils und ihrer demo­kra­ti­schen Teil­ha­be durch von aus­wär­ti­gen Mäch­ten stra­te­gisch ein­ge­setz­ten Han­del, unge­re­gel­te staat­lich tole­rier­te oder geför­der­te Migra­ti­on, und die offen zele­brier­te Ver­ach­tung gewis­ser Eli­ten für die „deplo­rables“, die jeden Mor­gen früh zur Arbeit gehen. Wie weit das rich­tungs­wei­send war, wird man noch sehen müs­sen, so wie die Ein­schät­zung Nixons nach sei­nem Rück­tritt noch nicht wirk­lich mög­lich war. Ziem­lich sicher dage­gen ist Bidens Rück­griff auf die Rezep­te von Prä­si­dent Frank­lin D. Roo­se­velts New Deal und Lyn­don John­sons Gre­at Socie­ty, sozia­le Kon­flik­te mit immer mehr Staats­aus­ga­ben ent­schär­fen zu wol­len, nicht richtungsweisend.

Heu­te wirkt der acht­und­sieb­zig­jäh­ri­ge Prä­si­dent Biden wie die berühm­te lah­me Ente der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik, die man eigent­lich erst nach der Wahl eines Nach­fol­gers vor dem Ende der Amts­pe­ri­ode wird. Natür­lich, er steht noch am Anfang sei­ner Amts­zeit, er hat noch die Chan­ce, eige­ne Ant­wor­ten zu fin­den. Dem Prä­si­den­ten Rea­gan gelang es in sei­nen Sieb­zi­gern auch noch, die Ame­ri­ka­ner davon zu über­zeu­gen, dass es nach sei­nen ers­ten vier Amts­jah­ren wie­der Mor­gen in Ame­ri­ka sei, dass eine fri­sche Nati­on ihre bes­ten Tage noch vor sich habe. Aus dem Kel­ler sei­nes Hau­ses oder der Som­mer­fri­sche in Camp David als Nach­lass­ver­wal­ter der geerb­ten Pro­ble­me wird das Biden aber nicht gelin­gen. Dazu müss­te er schon ein neu­es Kanin­chen aus dem Hut zaubern.

Die­ser Bei­trag erschien zuerst auf achgut.com. Bild: Wei­ßes Haus.