Am 1. April hat FragDenStaat ein angebliches Strategiepapier des Bundesinnenministeriums ‚Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen‘ veröffentlicht. Es wurde offenbar durchgestochen, jedenfalls nicht offiziell herausgegeben. Die FAZ betrachtet das Papier offenbar als echt, die NZZ, die Süddeutsche und der Focus auch. Wir wollen daher die Echtheit ebenfalls unterstellen und das Folgende unter ihrer Voraussetzung schreiben. Weiterhin wollen wir unterstellen, dass das Papier, wie von der FAZ berichtet, vom 19. bis zum 22. April von einer Expertengruppe unter Staatssekretär Markus Kerber im Bundesministerium des Inneren erstellt wurde. Unter diesen Voraussetzungen ist das Strategiepapier ein Dokument der gefährlichen Tendenz unserer Zeit, auf eine Strategieentwicklung bezüglich eines Problems zugunsten von Überlegungen des Framings weitgehend zu verzichten. Das Virus wird sich vom Framing aber nicht beeindrucken lassen.
Bevor Sie hier weiterlesen, möchte ich Ihnen vorschlagen, das Papier des Innenministeriums selber zu lesen. Mir jedenfalls erschien es so unglaublich, dass ich zunächst von einer Fälschung aus dem Verschwörungstheoretiker-Milieu ausgegangen bin. Es soll aber echt sein. Sollte sich diese Annahme als falsch herausstellen, dann wären die folgende kritische Auseinandersetzung mit dem Papier natürlich gegenstandslos. Danach sieht es aber zurzeit nicht aus.
„Die Kenntnisnahme durch Unbefugte kann für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein“
Die überraschendsten und bedenklichsten Teile dieses Dokuments finden sich in der ersten und in den letzten Zeilen.
Die Kopfzeile ist einfach, aber überraschend: „VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ wird das Dokument da eingestuft. Laut §4 der Sicherheitsüberprüfungsgesetzes hat diese Einstufung in den niedrigsten Geheimhaltungsgrad zu erfolgen, „wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann.“
Da fragt man sich nun doch, wie das bei einer Strategie zur Bekämpfung einer Seuche der Fall sein kann. Bei militärischen Planungen ist Geheimhaltung erforderlich, damit der Gegner sie nicht lesen und seine Strategien entsprechend abändern kann. Das neuartige Coronavirus wird aber kaum zu Lesen in der Lage sein, so dass diese Motivation ausscheidet. Auch erscheint es nicht plausibel, dass andere Länder nicht von der deutschen Strategie lernen sollen. Die ‚Interessen der Bundesrepublik‘ müssen also wohl dadurch berührt werden, dass die deutschen Bürger selber erfahren, wie ihre Regierung die Lage einschätzt, und was sie zu tun oder nicht zu tun gedenkt, oder auch einfach, dass der Kaiser nackt sei und eine Strategie nicht existiere. Einschränkungen der Bürgerrechte in einem Ausmaß, wie sie den Deutschen derzeit zugemutet werden, können aber nicht durch Herrschaftsarkana gerechtfertigt werden, sondern nur durch Wahrheit und Klarheit über die damit verfolgte Strategie. Wer die als den Interessen der Bundesrepublik nachteilig einstuft, muss mit dem Verdacht leben, dass er etwas zu verbergen hat, noch bevor die erste eigentliche Textzeile gelesen ist.
Eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat
Genauso überraschend wie schon die Kopfzeile ist der letzte Absatz, worin es heißt: „Nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsam distanziert voneinander kann diese Krise nicht nur mit nicht allzu grossem Schaden überstanden werden, sondern auch zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat.“
Wie soll man das verstehen? Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche sollen für eine grundsätzlich neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat den Weg weisen? Wie das genau aussehen soll, wird nicht beschrieben, aber wenn die noch zu beleuchtende Mischung aus Setzung von Maximalszenarien und deren Bekämpfung durch Einschränkungen der bürgerlichen Freiheit und staatlich gelenkte Massenkommuniktion nicht die Ausnahmereaktion auf eine Seuche sondern neue Normalität werden soll, dann ist das keine gute Perspektive.
Von der Funktion des Diktators in der römischen Republik bis zu den liberalsten modernen Demokratien erhält die Exekutive in Krisenzeiten einen Vertrauensvorschuss, der auch in Kauf nimmt, dass normale Grenzen ihrer Befugnisse hier und da überschritten werden und das dann später geklärt wird. Helmut Schmidt hat in der Hamburger Sturmflut von 1962 eine Karriere darauf aufgebaut. Dieser Vertrauensvorschuss setzt allerdings voraus, schon beim römischen Diktator, dass nach der Erledigung der Krise wieder zur Normalität zurückgekehrt wird und die Ausnahmemacht wieder dem regulären Verfassungsleben weicht. Die Etablierung einer „neuen Beziehung zwischen Bürger und Staat“ ist genau das, was dem römischen Diktator verboten war und ihn zum Diktator im modernen Wortsinn machen würde.
Abkehr von „Standardpraktiken“
Begehrlichkeiten für den Aufbau einer solchen „neuen Beziehung zwischen Bürger und Staat“ gibt es ja weiß Gott genug, an wirklichen oder angeblichen Krisen, die man mit Drastika außerhalb des normalen Verfassungslebens behandeln könnte, ist kein Mangel, und Begehrlichkeiten in diese Richtung werden schon laut, bevor wir auch nur die Covid-Fallzahlen annähernd im Griff haben. Hans Joachim Schellnhuber hat schon in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau seine entsprechenden Ansprüche für die ‚Klimakrise‘ angemeldet: „Beim menschgemachten Klimawandel droht ebenfalls ein Verlauf, der sich mit den Standardpraktiken des politischen Geschäfts nicht mehr beherrschen lässt.“ Genau diese Abkehr von den „Standardpraktiken“ einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aber ist das, was nicht zum Normalfall werden darf, und erst recht nicht für ein Problem wie das Klima, das schon prinzipiell nicht kurzfristig überwunden werden kann.
Ich will in die Einstufung als Verschlusssache und die Hoffnung der Verfasser des besprochenen Papiers auf eine Transformation der „Beziehung zwischen Bürger und Staat“ nicht zu viel hineininterpretieren. In meinem Beruf schreibe ich auch schon mal „[XXX] Streng Vertraulich“ unter eine E‑Mail, damit sie automatisch abgefangen wird, sollte sie jemand achtlos an einen Kunden weiterleiten wollen, auch wenn der Inhalt eigentlich nicht so geheim ist. Erfahrungsgemäß stufen manchmal Menschen auch ihr Werk als vertraulicher ein, als es eigentlich sein müsste, um sich so der Wichtigkeit ihres Elaborats zu versichern. Was den Interessen der Bundesrepublik schaden kann, muss ja wichtig sein. Auch die Einfügung eines perspektivischen Schlussabsatzes kann einfach eine Selbstversicherung der eigenen Wichtigkeit sein, ohne dass der Inhalt durchdacht oder ernstgemeint wäre. Ein Beweis für eine Corona-Verschwörung oder einen Corona-Hoax sind diese Dinge beim besten Willen nicht. Aber sie sollten zur Wachsamkeit gemahnen, und es lässt sich gar nicht vermeiden, dass der Leser den weiteren Inhalt dieses Papiers in diesem Licht liest.
Das völlige Desinteresse der Autoren an einer Abschätzung der Zuverlässigkeit ihres Modells ist überraschend
Nun ist es aber an der Zeit, zum eigentlichen Inhalt des Papiers zu kommen. Abschnitt 2 beinhaltet eine „Modellrechnung zur Strategiefindung“. Das darin verwendete Modell ist einfach, wie es auch sein muss, denn für ein kompliziertes Modell könnte man nie die nötigen Parameter bestimmen. Wie in solchen epidemiologischen Modellen üblich, wird von einer homogenen Population ausgegangen, in der sich das Virus mit einer bestimmten Geschwindigkeit ausbreitet und dabei bei einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung Komplikationen und Todesfälle verursacht. Die Autoren gehen ohne Maßnahmen zur Eindämmung von einer Verdoppelung der Fallzahlen (bei einer Bevölkerung ohne vorbestehende Immunität) alle drei Tage aus, von einer Hospitalisierungsrate von 5%, von denen die Hälfte beatmet werden muss, und einer Sterblichkeit von 1.2% bei funktionierendem und 2% bei rationiertem Gesundheitssystem. Diese Zahlen sind nach eigener Aussage des Papiers pessimistisch; so ist die angenommene Sterblichkeit das Doppelte der Schätzung des Robert-Koch-Instituts, die den Autoren zur Verfügung stand.
Während die Struktur des verwendeten Modells angemessen und nicht überraschend ist, ist das völlige Desinteresse der Autoren an einer Abschätzung seiner Zuverlässigkeit um so überraschender. Eigentlich ist es bei einem mathematischen Modell, das menschliche Praxis informieren soll, absolut üblich, dass man einerseits die Parametersensitivität beurteilt und andererseits die Unsicherheit über vorhandene Schätzungen der Parameter. Daraus kann man dann ableiten, als wie präzise man die Vorhersagen des Modells nehmen kann, vorausgesetzt, das Modell als solches stimme.
Die Parametersensitivität ist bei diesem Modell offensichtlich enorm. Wenn die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Infektion die Hälfte oder das Doppelte des verwendeten Werts betragen würde, dann würden sich die prognostizierten Szenarien drastisch verändern. Ebenso würden sich die Szenarien sehr stark verändern, wenn es eine erhebliche Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Infizierten gäbe. Wenn z.B. nur jeder Zehnte Infizierte auch positiv getestet wurde, dann würde die Schätzung der Hospitalisierungszahlen und der Todesfälle bei ansonsten unverändertem Infektionsgeschehen auf ein Zehntel sinken. Das wäre ein riesiger Unterschied.
Anstatt aber die Unsicherheit der verwendeten Modellparameter zu beurteilen, lehnen die Autoren das für solche Modelle übliche Nachdenken darüber ab, weil damit die „Sterblichkeitsrate des Virus immer wieder heruntergespielt“ worden sei: „Dieses und andere Argumente haben lange zu einer Unterschätzung der Gefahr, die von dem Virus ausgeht, geführt.“ Die Unterschätzung wäre aber nur dann eine, wenn die Dunkelziffer wirklich unterschätzt würde. Jedenfalls bewegt man sich schwer am Rande der Seriosität, wenn man auch nur den Versuch der Quantifizierung der Unsicherheit dieses Parameters als ‚Herunterspielen‘ verwirft.
Island hat mit einer zehnfach höheren Testdichte als Südkorea immer noch eine beobachtete Fallsterblichkeitsrate von 0.4% der positiv Getesteten
Die Autoren verwenden als Argument für ihre sehr pessimistische Einschätzung der Sterblichkeit, dass in Südkorea eine erhebliche Dunkelziffer unwahrscheinlich sei, weil dort auch symptomlose Kontaktpersonen getestet worden seien und die gemeldete Eindämmung der Epidemie bei einer erheblichen Dunkelziffer nicht möglich sei. Dann schlagen sie auf die in Südkorea beobachtete Sterblichkeit einen Zuschlag für die andere Altersstruktur Deutschlands auf, und kommen so auf eine Sterblichkeit von 1.8% bei guter medizinischer Versorgung, die sie dann wegen der geringeren Schätzung des RKI wieder auf 1.2% reduzieren.
Es gibt nun aber auch Argumente für eine erhebliche Dunkelziffer. Selbst in Südkorea wurden bis heute weniger als eine halbe Million Tests durchgeführt, bei einer Bevölkerung von 51 Millionen. Eine Infektion mit CoV scheint bei vielen Infizierten nur leichte oder keine Symptome hervorzurufen, und das Aufkommen von CoV fiel mit der Grippesaison zusammen, so dass offenbar viele Menschen mit plausiblen Symptomen und ihr Umfeld nicht getestet wurden.
In Island wurden Mitte März Tests an (offenbar nicht repräsentativ ausgewählten) Freiwilligen durchgeführt, bei denen 0.86% positiv ausfielen, was auf die Bevölkerung umgelegt eine Schätzung von 3.130 Infizierten zum damaligen Zeitpunkt ergäbe. Tatsächlich waren aber bis dahin nur 473 Personen positiv getestet worden. Daraus ergäbe sich, nimmt man die Stichprobe als repräsentativ an, in einem Land mit heute zehnmal so vielen Tests pro Einwohner wie in Südkorea eine Dunkelziffer, die sechseinhalbmal höher ist als die Zahl der positiv Getesteten. Die beobachtete Fallsterblichkeit in Island ist aber nicht sechseinhalbmal höher als in Südkorea, sondern war am 23. März nur 0.3% der positiv Getesteten oder 0.05% der aus den Tests der Freiwilligen geschätzten Zahl Infizierter. Für die Gesamtbevölkerung ist das wohl zu optimistisch, denn die ersten Infizierten in Island waren vorwiegend Skifahrer, die überdurchschnittlich jung, sportlich, gesund und wohlhabend sind. Zum 6. April hat Island aber trotzdem mit einer höheren Testdichte als Südkorea immer noch nur eine beobachtete Fallsterblichkeitsrate von 0.4% der positiv Getesteten.
Wir haben hier also ein Rätsel: Die Autoren des BMI-Papiers kommen auf eine Fallsterblichkeitsrate von sehr pessimistischen 1.8%. Mit ganz ähnlichen Überlegungen aus einem Land, das uns vielleicht in seinen Infektionsmustern nähersteht, kann man aber auch auf eine Sterblichkeit von 0.05% der Infizierten kommen. Der wahre Wert wird wohl irgendwo dazwischen liegen. Die Autoren setzen sich jedenfalls dem Verdacht einer absichtlich zu pessimistischen Schätzung aus, wenn sie schreiben, dass man von einer „prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate“ wegkommen müsse, aus kommunikativen Gründen, nicht solchen des Erkenntnisgewinns.
Man kann die Strategieplanung für ein Land nicht an einem einzigen Maximalszenario aufhängen, wenn die Ergebnisse eine Unsicherheit von Faktor zwanzig aufweisen
Auch für die Ausbreitungsgeschwindigkeit verzichten die Autoren auf eine Abschätzung des Fehlers der von ihnen angenommenen Zahl einer Verdoppelung alle drei Tage. Nach eigener Aussage der Autoren bezieht sich die Zahl auf die Verdoppelung der „gemeldeten infizierten Fälle“. Deren Wachstumsrate setzt sich aber zusammen aus der Wachstumsrate der Infektionen und der Wachstumsrate der Tests. Auch daraus ergibt sich eine erhebliche Unsicherheit, die den von den Autoren angenommenen Wert zu pessimistisch machen könnte.
Es ist den Autoren keineswegs zum Vorwurf zu machen, die wahren Parameterwerte nicht zu kennen (falls sie überhaupt existieren, und da nicht weitere Dynamiken am Werk sind, die statische Angaben für diese Parameter unbrauchbar machen). Ich kenne sie auch nicht. Es spricht auch nichts gegen das Durchrechnen eines von den Autoren selbst so benannten ‚Worst Case Szenarios‘. Aber man kann die Strategieplanung für ein Land nicht an einem einzigen Maximalszenario aufhängen, wenn ein wesentlicher Parameter und dadurch auch die wesentlichen Ergebnisse eine Unsicherheit von locker Faktor zwanzig aufweisen. Diese sonst übliche Betrachtung der Unsicherheit wurde von den Autoren nicht nur unterlassen, sondern als ‚Herunterspielen‘ und ‚Unterschätzung der Gefahr‘ abgelehnt.
Wie ein General, der einmal eine Annahme über die Strategie des Feindes getroffen hat, und sich dann weigert, die Aufklärung loszuschicken
In der weiteren Betrachtung dreier Szenarien gehen die Autoren von ihren pessimistisch gewählten Parametern als gesetzt aus, und betrachten lediglich drei verschiedene Handlungsszenarien, von denen eines zu mehr als einer Million Toten führt und eines zu unter den gewählten extrem pessimistischen Parametern wieder zu extrem optimistischen zwölftausend Toten.
Eine Betrachtung, welche Resultate man von den untersuchten Strategien erwarten würde, wenn die Eingabeparameter von Ausbreitungsgeschwindigkeit und Sterblichkeit anders wären, fehlt diesen Szenarien vollkommen. Sie wäre aber extrem wichtig. Mit einer großen Dunkelziffer und dementsprechend niedrigeren Sterblichkeit wäre einerseits das pessimistische Szenario ‚Worst Case‘ weitaus weniger drastisch und die Zahl der Toten würde stark zurückgehen, nicht nur wegen der geringeren Sterblichkeit an sich, sondern auch weil die Überlastung des Gesundheitssystems weitaus weniger schlimm würde. Andererseits würde mit einer großen Dunkelziffer der wahrscheinliche Erfolg des ‚Hammer and Dance‘ Szenarios geringer werden, denn die Verfolgung von Infektionsketten wird schwieriger, wenn man viele Infizierte gar nicht kennt und deren Zahl größer ist als gedacht. Die Kenntnis der Dunkelziffer, die man durch Tests an der Allgemeinbevölkerung abschätzen könnte, wäre also essentiell zur Bewertung unterschiedlicher Strategien und zur Auswahl zwischen ihnen, wird aber von den Autoren als Verharmlosung abgelehnt.
Die Autoren des Strategiepapiers verhalten sich zusammengefasst wie ein General, der einmal eine Annahme über die Stärke, Aufstellung und Strategie des Feindes getroffen hat, und sich dann weigert, die Aufklärung loszuschicken, um diese Annahmen zu bestätigen oder zu verändern. Dieser General beurteilt dann verschiedene Handlungsalternativen nur im Hinblick auf ihre Aussichten unter seinen einmal getroffenen Annahmen und ist nicht fähig, damit umzugehen, dass die Realität vielleicht anders ist. In der Epistemologie von Donald Rumsfeld muss er die Konsequenzen ihm ‚unbekannter Unbekannter‘ tragen, weil er sich weigert, sie zur Kenntnis zu nehmen und zu ‚bekannten Unbekannten‘ zu machen, aus denen durch Ausforschung vielleicht ‚bekannte Bekannte‘ werden könnten. Das ist ein Rezept für die Katastrophe, nicht nur in der Kriegführung.
Es „droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert“
Nachdem die epidemiologische Modellierung des Strategiepapiers bis an die Grenzen der Brauchbarkeit verengt ist, erspare ich es uns, die Modellierung der daraus folgenden wirtschaftlichen Konsequenzen einer näheren Kritik zu unterziehen. Wo die epidemiologischen Eingaben keine plausible Verteilung möglicher Szenarien ergeben, sondern einen selbst so benannten ‚Worst Case‘ wird man keine sehr brauchbaren Ausgaben des Modells erwarten.
Es überrascht allerdings, mit welcher Nonchalance die Autoren ausgerechnet im Innenministerium ein Szenario entwerfen, in dem „droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert“, ohne wirkliche Empfehlungen zum Umgang mit diesem Szenario zu geben. Sind die Amerikaner, die sich nachdem sie sich noch nie für Waffen interessiert haben schnell noch zu den Waffenläden begeben, vielleicht doch etwas auf der Spur (auch wenn der Besitz einer Glock ohne Übung offensichtlich weder den sicheren Umgang damit noch ihren wirksamen Einsatz lehrt)? Wir erfahren es nicht.
Interessant werden dann wieder die ‚Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation‘, wobei die ‚offene Kommunikation‘, wie wir sehen werden, wohl im Orwell’schen Sinne zu verstehen ist.
Ein Menschenbild, bei dem „sich viele dann unbewusst und uneingestanden denken: ‚Naja, so werden wir die Alten los, und mit ein bisschen Glück erbe ich schon ein bisschen früher‘“
Schamlos unterstellen die Autoren der Bevölkerung Deutschlands ein Menschenbild, bei dem „sich viele dann unbewusst und uneingestanden [denken]: ‚Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher‘.“ Diese Unterstellung des moralischen Charakters der Deutschen weckt fast schon Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Autoren, sagt jedenfalls mehr über ihr geistiges Leben aus als über die geistige und moralische Befindlichkeit der Deutschen.
Wer davon ausgeht, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich nach dem Tod der Alten sehne (oder gar in öffentlich-rechtlicher Darstellung der ‚alten Umweltsäue‘), um so schneller an das Erbe zu kommen und Unbequemlichkeiten zu vermeiden, der muss eigentlich zwangsläufig zu einem Politikverständnis kommen, das mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar ist, weil die Charaktereigenschaften der Bevölkerung mit ihr unvereinbar seien. Stattdessen muss der Leviathan ran, wenn es geht sanft durch geeignetes Framing, aber irgendwie impliziert auch durch andere Mittel, wenn es not tut. Man kann nur noch hoffen, dass diese Entgleisung das Resultat von Schlafmangel im Zuge der Erstellung dieses angeblich in drei Tagen geschriebenen Strategiepapiers ist.
Um die altenmeuchelnden und raffgierigen Deutschen zur Kooperation zu bewegen, setzen die Autoren auf eine „gewünschte Schockwirkung“. Dabei soll mit der „Urangst“ des Erstickens argumentiert werden, und damit, dass Kinder „das Gefühl haben, Schuld [am qualvollen Tod der Eltern] zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“. Die Autoren schlagen zugegeben nicht vor, das direkt den Kindern einzuimpfen, aber bei einer breiten Framing-Kampagne dieses Inhalts an die Eltern wird es sich gar nicht vermeiden lassen, dass auch Kinder diese Vorstellungen mitnehmen. Beeinflussung des Handelns anderer, also Macht, indem man Kindern einredet, sie seien am qualvollen Tod der Eltern schuld—das ist, man kann es nicht anders sagen, krank.
Eher schon lustig dagegen ist die Ausgabe „der mathematischen Formel: 2019 = 1919 + 1929“. Dass das als ‚mathematische Formel‘ nicht hinkommt, ist offensichtlich, aber auch der historische Vergleich mit der Spanischen Grippe und der Weltwirtschaftskrise hinkt. Wir haben nicht gerade den ersten Weltkrieg hinter uns, um nur einen Unterschied zu nennen, ganz abgesehen davon, dass sonst doch jeder Vergleich mit der Influenza als gefährliche ‚Verharmlosung‘ verteufelt werden soll.
Ein einziger Absatz zu „Betten und Sauerstoffkapazität hochfahren“
Die vorgeschlagenen tatsächlichen Maßnahmen außerhalb des Framings sind soweit nicht kontrovers, allerdings im Vergleich zu den vorgeschlagenen Framing-Maßnahmen sehr dürr und wenig entwickelt. Wenn ein schlimmes Szenario mit hunderttausenden Patienten, die durch Lungenschädigungen nicht genug Sauerstoff bekommen, auch nur plausibel ist (und das ist es, selbst wenn das Papier seine Wahrscheinlichkeit maßlos überschätzt), dann ist ein einziger Absatz zu „Betten und Sauerstoffkapazität hochfahren“ doch etwas arg dünn.
Die Autoren gehen davon aus, dass ungefähr die Hälfte der auf Sauerstoff angewiesenen Patienten keine Beatmung brauchen. Es wird dann vermutlich noch einen weiteren Anteil geben, bei dem Beatmung zwar indiziert wäre, aber freie Atmung mit Sauerstoff immer noch deutlich bessere Chancen gibt, als nichts zu tun. (Der Sauerstoffpartialdruck in der Lunge wird bei freier Sauerstoffatmung gegenüber Luftatmung ja immerhin grob verfünffacht.) Wäre es da nicht angebracht, statt über Framing lieber einmal darüber nachzudenken, wie man die Kapazitäten bereitstellen könnte, im schlimmsten Fall eine riesige Anzahl von Patienten zumindest mit Sauerstoff versorgen zu können? Am Sauerstoff selber wird es nicht scheitern, denn Deutschland stellt davon im Jahr mehr als 6 Milliarden Kubikmeter her, allerdings mit deutlich begrenzteren Kapazitäten des Transports. Das Problem ist also ein organisatorisches und logistisches und jedenfalls ein leichter lösbares als ein unbegrenzter Aufwuchs von Intensivbetten, dessen Bearbeitung mir dringlicher erschiene, als Kindern die Schuld am Tod der Eltern einzureden.
Es fehlt auch eine Diskussion, inwieweit Schutzmasken einen teilweisen Betrieb des öffentlichen Lebens ermöglichen könnten. Es geht dabei nicht um eine sehr hohe Schutzwirkung im Sinne der Arbeitssicherheit. Die Autoren argumentieren im Abschnitt über die Absenkung von Sozialkontakten mit der Verringerung der Reproduktionszahl des Virus. Wenn nun das Tragen von Masken diese um die Hälfte verringern könnte, dann hätte dies genau die gleiche Auswirkung wie eine Verringerung von Sozialkontakten um die Hälfte. Bei der richtigen Feststellung „eine längere Periode der Ausgangsbeschränkungen ist weder wirtschaftlich noch sozial aufrecht zu erhalten“ hätten solche Dinge eigentlich eine Überlegung wert sein können und wären jedenfalls wertvoller als Framing-Anleitungen.
Die Wahrheit und Klarheit des Gesagten schafft Vertrauen und Kooperation; Framing tut das nicht
Am Schluss stellen die Autoren richtig fest: „Nur mit einem Zusammenkommen und Wirken von allen Kräften in der Gesellschaft können wir die Verlangsamung der Neuinfizierungen und schließlich Eindämmung des Virus schaffen.“ Sie erkennen allerdings nicht, dass das durch Phantasien langfristiger gesellschaftlicher Transformation, drastisch pessimistische Modelle und aggressiv vorgetragenes Framing unter Vernachlässigung von Informationsgewinn und wirklichen Strategien gerade nicht erreicht werden kann. Die Bundesregierung wirkt planlos und erzeugt Misstrauen. Letzteres ist hoffentlich und wahrscheinlich unbegründet, aber die Signale sind keine günstigen. Das Aufkommen wilder Verschwörungstheorien braucht da dann nicht mehr zu überraschen.
Da hilft es dann auch nicht, dass am Schluss des Papiers noch das Dreschen von Hashtags (#wirbleibenzuhause) und die Vermittlung unspezifischer Emotionen empfohlen werden: „Auch hier gilt es ein Gefühl des ‚gemeinsam distanziert‘ zu fördern.“ Politik als Hashtag und Gefühl — das wird dieses Mal nicht funktionieren. Die Bundesregierung muss der Bevölkerung eine glaubhafte Strategie anbieten, was sie zu tun gedenkt, wie sie das Verständnis der Lage verbessern will, welche Handlungspfade sie abhängig von der Entwicklung plant, und ihr die Sicherheit geben, dass die Covid-Krise gerade nicht als Einstieg „in eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat“ dienen soll. Die Wahrheit und Klarheit des Gesagten und das Vertrauen, dass die Krise nicht zur Umgestaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung missbraucht werde, schafft Vertrauen und Kooperation. Framing tut das nicht.