Epi­de­mie der Tests oder des Virus? Die Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl des Coro­na­vi­rus auf Basis gemel­de­ter Infektionen

Bei Betrach­tung der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl von berich­te­ten Infek­tio­nen gegen den Anteil der Infi­zier­ten unter der Bevöl­ke­rung sieht man ein gemein­sa­mes Mus­ter der west­li­chen Län­der. Man kann aus den vor­lie­gen­den Test­ergeb­nis­sen aber nicht sehen, ob wir die Infek­ti­on in den Griff bekom­men, viel­leicht sogar sehr gut, oder nur mit dem Tes­ten nicht hin­ter­her­kom­men. Sys­te­ma­ti­sche Berich­te nega­ti­ver Tests sind eine drin­gen­de Auf­ga­be, wie auch sys­te­ma­ti­sche Stich­pro­ben­tests der Bevölkerung.

R0 by Incidence Germany

Um die Aus­brei­tung des neu­ar­ti­gen Coro­na­vi­rus zu illus­trie­ren bekommt man von der Qua­li­täts­pres­se allent­hal­ben Gra­phi­ken mit furcht­erre­gends­ten Hockey-Stick Dar­stel­lun­gen auf­ge­tischt. Zur Beur­tei­lung die­ses Gesche­hens tau­gen die eher wenig. Natür­lich wird ein expo­nen­ti­el­les Wachs­tum einer sich aus­brei­ten­den Krank­heit eine Kur­ve geben, die zunächst flach ist und dann furcht­erre­gend immer stei­ler wird — sonst könn­te die Krank­heit sich nicht aus­brei­ten. Wenn eine Infek­ti­on Immu­ni­tät ver­leiht, dann wird sich die­ses Wachs­tum mit der Aus­brei­tung der Infek­ti­on auch wie­der abfla­chen, so lan­ge, bis Her­den­im­mu­ni­tät erreicht ist. Sinn­vol­ler zur Beur­tei­lung wäre da schon eine log­arith­mi­sche Ach­se der Fall­zah­len; aber man kann es auch inter­es­san­ter gestalten.

Das Anste­ckungs­po­ten­ti­al eines Erre­gers kann man mit der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl R0 ange­ben, die angibt, wie vie­le wei­te­re Men­schen ein Infi­zier­ter in einer noch nicht immu­nen Popu­la­ti­on im Durch­schnitt ansteckt. Bei SARS-CoV‑2 wird das ohne „Maß­nah­men“ so auf 3 geschätzt. Wenn durch „Maß­nah­men“ die­se Zahl auf 1 gesenkt wird, dann ist das Wachs­tum der Fall­zah­len gestoppt — jeder Infi­zier­te steckt im Ver­lauf sei­ner Infek­ti­on nur noch eine wei­te­re Per­son an. Sinkt die Zahl noch wei­ter, dann sin­ken die Fall­zah­len. Wei­ter sin­ken die Fall­zah­len durch Durch­seu­chung, wenn also mehr und mehr Men­schen immun sind, und die tat­säch­li­che Repro­duk­ti­ons­zahl unter der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl zurück­bleibt, weil das Virus auf bereits Immu­ne trifft, die es nicht noch ein­mal anste­cken kann.

Es sieht danach aus, als ob die west­li­chen Län­der die Aus­brei­tung in den Griff bekommen

Ich habe mir ein­mal die Mühe gemacht, die Ent­wick­lung der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl anhand der gemel­de­ten Fall­zah­len abzu­schät­zen, in ver­schie­de­nen Län­dern, und zunächst ein­mal im Ver­lauf der Zeit:

Basis­re­pro­duk­ti­ons­zah­len aus berich­te­ten SARS-CoV‑2 Infek­tio­nen nach Datum und Land

Man sieht hier eine Abschwä­chung mit der Zeit und eine Bewe­gung auf die rote Linie, wel­che die 1 mar­kiert, zu. Es sieht also zunächst ein­mal danach aus, als ob die west­li­chen Län­der die Aus­brei­tung des Virus in den Griff bekommen.

Etwas inter­es­san­ter kann man die Sache dar­stel­len, wenn man die Ent­wick­lung der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl nicht gegen die Zeit dar­stellt (denn die Seu­che ist in ver­schie­de­nen Län­dern zu ver­schie­de­nen Zei­ten ange­kom­men) son­dern gegen den Teil der Bevöl­ke­rung, der bereits posi­tiv getes­tet wurde:

Basis­re­pro­duk­ti­ons­zah­len aus berich­te­ten SARS-CoV‑2 Infek­tio­nen nach kumu­la­ti­ver Zahl der Infi­zier­ten und Land

Hier sieht man ein Mus­ter bei dem das Wachs­tum der Infek­tio­nen am Anfang sehr wild vari­iert, bei 1E‑5 (also wenn einer von 100,000 der Bevöl­ke­rung infi­ziert getes­tet wur­de) dann so rund bei 3 ist, unge­fähr dem geschätz­ten Wert für R0 ohne „Maß­nah­men“, und sich dann mit ein­set­zen­den „Maß­nah­men“ auf die rote Linie mit der 1 zube­wegt, die erreicht wird, wenn unge­fähr einer von 1,000 der Bevöl­ke­rung posi­tiv getes­tet wur­de. Das scheint ein gemein­sa­mes Mus­ter der west­li­chen Län­der zu sein, aber sogar des Iran. (Katar las­sen wir ein­mal außen vor.)

Eine Epi­de­mie von Infek­tio­nen oder eine Epi­de­mie von Tests?

Nun hat die­se Aus­wer­tung aber ein Pro­blem. Ich habe betont, dass ich anhand der gemel­de­ten Fall­zah­len abge­schätzt habe, und dass sich für die gemel­de­ten Zah­len ein gemein­sa­mes Mus­ter ergibt. Jetzt wis­sen wir aber, dass oft­mals noch nicht ein­mal jeder eini­ger­ma­ßen drin­gen­de Ver­dachts­fall einen Test bekommt, zeit­nah oder über­haupt, dass sich die Häu­fig­keit von Tests zwi­schen den Län­dern unter­schei­det, und dass sie über die Zeit variiert.

Was wir wirk­lich gemes­sen haben ist also gar nicht das Wachs­tum der CoV-Infek­tio­nen, son­dern das Wachs­tum der posi­ti­ven Test­ergeb­nis­se. Wenn man anfangs gleich­zei­tig eine rela­tiv klei­ne Anzahl Infi­zier­ter im Ver­gleich zur Bevöl­ke­rung hat und eine rela­tiv klei­ne Anzahl ver­füg­ba­rer Tests, dann ist die Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­keit, die man misst, die Sum­me der Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­keit der Infek­ti­on sel­ber und der Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­keit der Tests. (Etwas ver­ein­facht — Ver­än­de­run­gen, wer getes­tet wird, kom­men zur Test­häu­fig­keit noch hin­zu.) Man kann anhand die­ser Zah­len also nicht unter­schei­den, ob man ein Wachs­tum der Infek­tio­nen hat oder ein Wachs­tum von Tests. Pole­mi­scher gespro­chen: Man sieht nicht, ob man eine Epi­de­mie von Infek­tio­nen oder eine Epi­de­mie von Tests hat.

Damit erklä­ren sich die anfäng­lich dra­ma­ti­schen Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­kei­ten mit R0 jen­seits von 5 in eini­gen Län­dern. Man darf davon aus­ge­hen, dass von anfangs sehr weni­gen Tests deren Zahl sich nach dem Anfang des Tes­tens und ers­ten posi­ti­ven Ergeb­nis­sen schnell erhöht hat, schnel­ler als die der Infi­zier­ten. Wei­ter kann sich die Zahl der Infi­zier­ten durch Ein­schlep­pen schnel­ler erhöht haben als durch Aus­brei­tung inner­halb der Bevöl­ke­rung mög­lich gewe­sen wäre.

Aber wie kann man dann die posi­tiv wir­ken­de Ent­wick­lung, die wir jetzt sehen, erklä­ren? Es gibt im Grun­de zwei Mög­lich­kei­ten: Die posi­ti­ve Les­art ist, dass die Anzahl der Tests wei­ter rapi­de steigt, die posi­ti­ven Test­ergeb­nis­se des­halb mehr wer­den, und die tat­säch­li­che Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl an Infi­zier­ten des­halb schon deut­lich unter 1 ist, wir die Sache also im Griff haben und die „Maß­nah­men“ lockern könn­ten. Die nega­ti­ve Les­art ist, dass die Anzahl der Tests mit der Anzahl der Infi­zier­ten gar nicht mehr Schritt hal­ten kann, und wir — jeden­falls in man­chen Län­dern — nur des­halb Ruhe sehen, weil das Tes­ten nicht mit den Infek­tio­nen mit­hält. In die­sem Fall müss­ten die „Maß­nah­men“ viel­leicht ver­schärft wer­den. Und die Wahr­heit kann natür­lich zwi­schen die­sen Extre­men lie­gen, wird es ver­mut­lich auch in vie­len Fäl­len tun.

Nega­ti­ve Tests berichten

Um die posi­ti­ve von der nega­ti­ven Les­art zu unter­schei­den, müss­te man drin­gend wis­sen, wie vie­le Tests gemacht wer­den, aber nega­tiv aus­fal­len. Das genau­so sys­te­ma­tisch zu berich­ten wie posi­ti­ve Tests wäre eine Auf­ga­be von höchs­ter Dring­lich­keit und kein gro­ßer Auf­wand bei der bereits bestehen­den Struk­tur für Berich­te posi­ti­ver Tests. Wei­ter­hin wäre es höchst nütz­lich, fest­zu­stel­len, wel­cher Anteil der Bevöl­ke­rung bereits infi­ziert ist oder war, aber nicht getes­tet wur­de. Das wäre durch reprä­sen­ta­ti­ve Stich­pro­ben­tests mög­lich, sowohl PCR zum Ver­gleich mit den Tests von Ver­dachts­fäl­len als auch sero­lo­gisch zur Ermitt­lung der Zahl der in der Ver­gan­gen­heit infi­zier­ten. Ohne die­se bei­den Infor­ma­tio­nen ist es schwer mög­lich, zu sagen, ob wir die Infek­ti­ons­aus­brei­tung unter Kon­trol­le haben, viel­leicht sogar sehr gut, oder ob uns die Infek­tio­nen durch­ge­hen und wir mit dem Tes­ten nicht hinterherkommen.

Zah­len hier­zu gibt es bis­her nur ver­ein­zelt, z.B. vom RKI. Für eine sinn­vol­le Ana­ly­se von Trends über die Zeit reicht das nicht.

Wir flie­gen blind. Wäh­rend wir die Rich­tung eines Charts unse­res Brut­to­so­zi­al­pro­dukts über die letz­ten Wochen ohne Wei­te­res ange­ben kön­nen, fehlt es uns an der Erhe­bung brauch­ba­rer Zah­len der Infi­zier­ten und eben nicht nur der infi­ziert Getesteten.

Die Fall­zah­len stam­men von World Odo­me­ters.

2 Gedanken zu „Epi­de­mie der Tests oder des Virus? Die Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl des Coro­na­vi­rus auf Basis gemel­de­ter Infektionen“

  1. Viel inter­es­san­ter sit die Zahl der Leu­te mit covid19 im Kran­ken­haus. Die­se Zah­len sind recht zuver­läs­sig und sagen viel aus.

    1. Schon. Aber Kran­ken­haus­be­le­gun­gen sagen logi­scher­wei­se die inter­es­san­tes­te Zahl nicht aus, wie vie­le Leu­te ins Kran­ken­haus müss­ten wenn die Sache durch­geht. Ob das berühm­te „flat­ten the curve“-Szenario zwei Mona­te Voll­be­le­gung der Inten­siv­sta­tio­nen und eine ent­spre­chen­de Anzahl von Todes­fäl­len bedeu­ten wür­de, oder fünf Jah­re Voll­be­le­gung und eine ent­spre­chend höhe­re Zahl von Todes­fäl­len, wäre zur Beur­tei­lung sei­ner Plau­si­bi­li­tät ja schon inter­es­sant. (Die fünf Jah­re natür­lich nur als offen­sicht­lich so nicht wirk­lich durch­zu­zie­hen­der mathe­ma­ti­scher Rechen­wert-da käme vor­her ent­we­der ein Medi­ka­ment oder Impf­stoff oder der Kol­laps, viel­leicht auch eine Ver­än­de­rung im Ver­hal­ten des Virus selber.)

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