#Flat­ten­The­Cur­ve: Das Hash­tag, der Car­toon und die Zahlenblindheit

Was pas­siert, wenn man die belieb­te #Flat­ten­The­Cur­ve-Gra­phik ein­mal mit ech­ten Zah­len durch­rech­net? Man sieht sofort: Die Kur­ven sehen anders aus. „Eine Kri­se der mathe­ma­ti­schen Bildung“

Zu Anfang der öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Covid-19-Epi­de­mie ver­brei­te­ten sich ein Hash­tag und ein in vie­len Vari­an­ten gezeich­ne­ter Car­toon noch vira­ler als das Virus selbst: #Flat­ten­The­Cur­ve. Das Hash­tag zier­te zahl­lo­se Tweets, und der Car­toon wur­de in der Qua­li­täts­pres­se wie­der und wie­der abge­druckt, z.B. hier eine Vari­an­te im Spie­gel. Man konn­te sich eigent­lich den­ken, dass etwas fehl­te, denn in kei­nem die­ser Car­toons waren die Ach­sen mit Ska­len beschrif­tet, und in kaum einem der zuge­hö­ri­gen Arti­kel wur­den die Impli­ka­tio­nen erör­tert. Ich möch­te des­halb ein­mal den Car­toon mit der glei­chen Gra­phik ver­glei­chen, wenn man die Zah­len durchrechnet.

Ursprüng­lich war die­se Dar­stel­lung nicht an einen bestimm­ten Erre­ger ange­passt und durch­ge­rech­net, und schon gar nicht an SARS-CoV‑2

Fan­gen wir mit dem Car­toon an:

Der berühmte Flatten the Curve Cartoon
Sioux­sie Wiles and Toby Mor­ris auf Wiki­me­dia

Ihren Ursprung hat die­se Dar­stel­lung wohl in einem Doku­ment der ame­ri­ka­ni­schen Gesund­heits­be­hör­de von 2007 mit dem sper­ri­gen Titel ‚Inte­rim pre-pan­de­mic plan­ning gui­dance : com­mu­ni­ty stra­tegy for pan­de­mic influ­en­za miti­ga­ti­on in the United Sta­tes : ear­ly, tar­ge­ted, laye­red use of non­phar­maceu­ti­cal inter­ven­ti­ons‘, mit dem Ur-Car­toon auf Sei­te 18. Wie schon das Erschei­nungs­jahr zeigt, stell­te die­ser Car­toon auf die all­ge­mei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on einer Stra­te­gie ab, war aber nicht an einen bestimm­ten Erre­ger ange­passt und durch­ge­rech­net, und schon gar nicht an SARS-CoV‑2.

Die kom­mu­ni­zier­te Stra­te­gie ist, durch eine Ver­lang­sa­mung der Aus­brei­tung des Virus eine Über­las­tung des Gesund­heits­sys­tems zu ver­mei­den. Wohl­ge­merkt bleibt die Flä­che unter der Kur­ve in bei­den Sze­na­ri­en unge­fähr gleich, so dass also gleich vie­le Men­schen infi­ziert wer­den bis die Epi­de­mie durch Her­den­im­mu­ni­tät erlischt. Eine Ver­rin­ge­rung von Opfern wird dadurch und nur dadurch erreicht, dass die Kapa­zi­täts­gren­ze des Gesund­heits­sys­tems nicht durch zu vie­le Infi­zier­te auf ein­mal über­schrit­ten wird. Das ist im gezeich­ne­ten Bei­spiel auch rela­tiv ein­fach zu bewerk­stel­li­gen, denn unter­stellt man, dass die Ach­sen line­ar sein sol­len, dann muss die maxi­ma­le Zahl der gleich­zei­tig Infi­zier­ten nur auf unge­fähr die Hälf­te gedrückt und die Epi­de­mie auf unge­fähr das dop­pel­te der Zeit gestreckt wer­den. (Bemer­kens­wer­ter­wei­se ist das beim Ori­gi­nal von 2007 aller­dings nicht der Fall, denn das nennt auch als Ziel, die gesam­te Fall­zahl zu ver­rin­gern, ohne dass aber völ­lig klar wäre, wie das gesche­hen soll.)

Was pas­siert aber, wenn man das ein­mal mit ech­ten Zah­len durch­rech­net? Man sieht sofort: Die Kur­ven sehen anders aus

Was pas­siert aber, wenn man das ein­mal mit ech­ten Zah­len durch­rech­net? Ich habe das mit einem simp­len Modell ver­sucht, das eine Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl R0 von 2.5 annimmt, kei­ne vor­be­stehen­de Immu­ni­tät, eine Aus­brei­tung von einer Infek­ti­ons­ge­ne­ra­ti­on pro Woche, und eine Kapa­zi­täts­gren­ze von 1.25% der Bevöl­ke­rung infi­ziert (von denen nicht alle behan­delt wer­den müs­sen). Ich habe dazu drei Sze­na­ri­en errechnet:

  • Unkon­trol­liert ist die natür­li­che Aus­brei­tung ohne wei­te­re Infektionsschutzmaßnahmen
  • Opti­mal kon­trol­liert ist eine opti­ma­le Kon­troll­stra­te­gie mit per­fek­ter Infor­ma­ti­on, wel­che die Zahl der Infi­zier­ten gera­de an der Kapa­zi­täts­gren­ze des Gesund­heits­sys­tems hal­ten kann
  • Rea­lis­tisch kon­trol­liert ist eine Annä­he­rung an opti­mal kon­trol­liert, ohne dass eine per­fek­te Rege­lung statt­fin­det, aber immer noch ziem­lich optimistisch

Das sieht dann so aus:

Drei Szenarien der Infektionsausbreitung
Rea­lis­ti­sche­re ‚Flat­ten the Cur­ve‘ Sze­na­ri­en für Covid-19: Mosereien.org

Man sieht sofort: Die Kur­ven sehen anders aus. Bei unkon­trol­lier­ter Aus­brei­tung wäre an der Spit­ze der Kur­ve ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung gleich­zei­tig infi­ziert, also das 26-fache unse­rer ange­nom­me­nen Kapa­zi­tät. Der wesent­li­che Ver­lauf der Infek­ti­on bis zur Her­den­im­mu­ni­tät wür­de rund 14 Wochen in Anspruch neh­men, wäh­rend derer mehr als einer von zehn­tau­send infi­ziert wäre. Aller­dings wären beim Errei­chen der Her­den­im­mu­ni­tät nicht nur die zu erwar­ten­den zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung infi­ziert gewe­sen, son­dern fast alle (98% in mei­nem Modell), weil die Wel­le mit einer sol­chen Wucht bran­det, dass am Schluss noch fast alle infi­ziert werden.

Die kon­trol­lier­ten Sze­na­ri­en ver­mei­den die­se gewal­ti­ge Wel­le, müs­sen dafür aber die Dau­er der Epi­de­mie auf 75 bzw. 86 Wochen aus­deh­nen. Um das zu errei­chen, muss die Aus­brei­tung des Virus knapp vor Errei­chen der Kapa­zi­täts­gren­ze radi­kal ein­ge­schränkt wer­den, und danach kön­nen die Schutz­maß­nah­men (gemes­sen an der Absen­kung der Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl) ste­tig aber lang­sam gelo­ckert wer­den. Durch die­se Abfla­chung ver­rin­gert sich auch die Zahl der inge­samt Infi­zier­ten auf die zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung, die man für die gewähl­te Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl erwar­ten würde.

Wenn man das über die gan­ze Welt mas­sen­haft ver­brei­te­te Chart durch­rech­net und durch­denkt, dann sieht es gar nicht mehr so rosig aus

In die­sem Modell, wie in dem ori­gi­na­len ‚Flat­ten the Curve‘-Vorschlag, gehe ich davon aus, dass die Epi­de­mie nur durch erwor­be­ne Immu­ni­tät gestoppt wer­den kön­ne, also kei­ne Sil­ber­ku­gel in Form einer Imp­fung, eines Medi­ka­ments oder einer spon­ta­nen Ver­rin­ge­rung der Viru­lenz des Virus recht­zei­tig zu Hil­fe kom­me. Ent­spre­chend wird die Zahl der Toten nur dadurch ver­rin­gert, dass die unkon­trol­lier­te Total­in­fek­ti­on und die Über­las­tung des Gesund­heits­sys­tems ver­hin­dert wer­den, bleibt aber bei zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung mal dem Wert, den man für die Sterb­lich­keits­ra­te ein­setzt: also z.B. 0.66% der Bevöl­ke­rung bei einer Sterb­lich­keit von 1%.

Wenn man also das über die gan­ze Welt mas­sen­haft ver­brei­te­te Chart durch­rech­net und durch­denkt, dann sieht es gar nicht mehr so rosig aus, wenn auch immer noch bes­ser als die Alter­na­ti­ve eines unkon­trol­lier­ten Durch­ge­hens der Seu­che. Als Jubel­hash­tag erscheint mir #Flat­ten­The­Cur­ve bei nähe­rer Betrach­tung nicht sehr geeignet.

An der Dun­kel­zif­fer hängt fast alles

Was nun? Ich habe das Chart mit Annah­men durch­ge­rech­net, die opti­mis­tisch im Ver­gleich zu den am Anfang der Epi­de­mie von Exper­ten­grup­pen zir­ku­lier­ten Zah­len sind, aber pes­si­mis­tisch wenn man davon aus­geht, dass eine erheb­li­che Dun­kel­zif­fer an uner­kannt Erkrank­ten bestehe. Wenn z.B. neun von zehn Erkrank­ten gar nicht als sol­che erkannt wür­den, dann wür­de sich die Kapa­zi­täts­gren­ze ver­zehn­fa­chen, und die benö­tig­te Zeit der Maß­nah­men wür­de sich auf ein Zehn­tel ver­rin­gern wie auch die Zahl der Toten. Dass eine hohe Dun­kel­zif­fer wün­schens­wert wäre, macht aber nicht, dass sie auch exis­tiert, auch wenn es Anhalts­punk­te dafür gibt. An die­ser Dun­kel­zif­fer hängt fast alles, und das gerin­ge anfäng­li­che Inter­es­se der Exper­ten dar­an, sie zu eru­ie­ren, erscheint mir mehr als befremdlich. 

Auch für die Mög­lich­keit einer wei­ter­ge­hen­den Ein­däm­mung, als für eine kon­trol­lier­te ‚Durch­seu­chung‘, wie man das nennt, erfor­der­lich wäre, ist die Dun­kel­zif­fer die essen­ti­el­le Fra­ge. Ist sie hoch, wird es schwie­ri­ger, Infek­ti­ons­ket­ten mit einer Rück­ver­fol­gung von Kon­tak­ten ein­zu­fan­gen, aber dafür wird der Weg zur Her­den­im­mu­ni­tät plau­si­bler. Ist die Dun­kel­zif­fer dage­gen nied­rig, dann wäre der Weg zur Her­den­im­mu­ni­tät mit enor­men Opfern ver­bun­den und auch unprak­tisch lang, so dass Zeit­ge­winn bis zur Erzie­lung einer Immu­ni­tät durch eine Imp­fung als Stra­te­gie attrak­ti­ver wird.

Letz­te­re Stra­te­gie, die unter #Stop­The­Spread als Hash­tag fir­miert, müss­te natür­lich erklä­ren, wie sie auf unbe­stimm­te Zeit durch Rück­ver­fol­gung von Infek­tio­nen die Basis­re­pro­duk­ti­ons­zahl auf 1 oder dar­un­ter hal­ten will. Die oben gezeig­te lang­sa­me Locke­rung gin­ge in die­ser Stra­te­gie näm­lich nicht, denn sie basiert auf einer zuneh­men­den Anzahl von Immu­nen, die nicht auf­ge­baut wird, wenn die Infek­ti­on erfolg­reich unter­drückt wird.

„Auch eine Kri­se der mathe­ma­ti­schen Bildung“

Als ich mich ent­schloss, mit den Mose­rei­en anzu­fan­gen, nahm ich Bezug auf einen Arti­kel in der FAZ, der den Umgang mit der Covid-Kri­se als „auch eine Kri­se der mathe­ma­ti­schen Bil­dung“ cha­rak­te­ri­sier­te. Die all­ge­mei­ne Begeis­te­rung für #Flat­ten­The­Cur­ve und den dazu­ge­hö­ri­gen Car­toon zu Anfang der Kri­se ist dafür ein glän­zen­des Bei­spiel. Lei­der habe ich nicht den Ein­druck, dass die gegen­wär­ti­gen Dis­kus­sio­nen der Poli­ti­ker um „Maß­nah­men“ und „Locke­run­gen“ zu voll­kom­men arbi­trä­ren Kalen­der­da­ten von einem grö­ße­ren Bemü­hen um wenigs­tens eine ein­fa­che Über­prü­fung der mathe­ma­ti­schen Plau­si­bi­li­tät gekenn­zeich­net sind.