In Tübingen wurde eine Studie zur Behandlung von Covid-19 mit Hydroxychloroquin ausgesetzt, zunächst für zwei Wochen. Unmittelbarer Anlass war die Betrachtung von Fallzahlen, nach denen außerhalb dieser Studie mehr mit Hydroxychloroquin als ohne es Behandelte verstarben. Diese Fallzahlen sind allerdings nicht aus Studien mit zufälliger Zuteilung der Patienten in Gruppen entnommen, sondern aus der normalen medizinischen Praxis, und da liegt es natürlich nahe, dass Ärzte ein experimentelles Medikament eher bei ohnehin schon verzweifelten Lagen verwenden als bei Patienten, die sich auch ohne heroische Interventionen voraussichtlich gut erholen werden.
Diese Entscheidung zur Aussetzung wurde allerdings auch von einem anderen Umstand mitbeinflusst:
Zuletzt hätten die Mediziner ohnehin Probleme gehabt neue Patienten zu finden, weil die Zahl der neu an Covid-19-Erkrankten so niedrig ist. Wenn die Infektionsrate in Deutschland so bleibt wie jetzt, müssen wir die Studie stoppen, weil wir keine Patienten mehr haben.
Auch Deutschland unterbricht Studie mit Malariamittel, Spiegel, 28.05.2020
Die Sache hat sich also mangels Patienten im Grunde schon von selber erledigt.
Damit präsentiert sich ein weiteres Problem für die Frage nach der Strategie des Ausstiegs aus den „Maßnahmen“:
- Die anfänglich zelebrierte und dann verfemte #FlattenTheCurve-Strategie hat mit der Abflachung so gut funktioniert, dass kaum Fallzahlen entstehen, womit aber die von dieser Strategie vorgesehene Erreichung der Herdenimmunität auf den St. Nimmerleinstag verschoben wird. (Es wäre theoretisch möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass der Rückgang der Infektionsaktivität zumindest an manchen Orten mit einer enormen Dunkelziffer erklärbar wäre, und die Strategie damit funktioniert hätte, aber wirkliche Bemühungen, das zu eruieren, halten sich auch in Grenzen, und eine hohe Dunkelziffer oder jedenfalls deren Kenntnisnahme war von Anfang an politisch unerwünscht. Eine Ausnahme davon sind z.B. die in Tübingen angebotenen Antikörpertests.)
- Die Strategie des Wartens auf einen Impfstoff oder ein Medikament funktioniert auch schlecht, wenn kaum jemand erkrankt. Die beste Chance auf ein Medikament ist, dass ein bereits für andere Zwecke zugelassener Wirkstoff auch den Verlauf von Covid-19 günstig beeinflussen könnte. Um das herauszufinden, braucht man aber erkrankte Studienteilnehmer. Die absichtliche Herbeiführung von Erkrankungen beim Menschen ist offensichtlich indiskutabel. Bei Tests von Impfstoffen sind zwar in gewissem Maße absichtliche Expositionen von Testpersonen möglich, aber bevor man die ganze Bevölkerung durchimpfen will, wären Erkenntnisse, wie der Impfstoff in freier Wildbahn schützt, nicht schlecht zu haben. Ohne Erkrankungen dürfte also die Wartezeit bis zum Medikament oder Impfstoff steigen. Die Bereitschaft, mögliche Opfer bei Tests von Medikamenten oder Impfstoffen hinzunehmen, dürfte mit schwindenden Fallzahlen auch stark zurückgehen.
- Der Einfluss von Kontaktbeschränkungen im Vergleich zu anderen Faktoren beim Zurückgehen des Infektionsgeschehens, z.B. einem saisonalen Faktor oder einer örtlich erreichten Herdenimmunität vielleicht im Zusammenspiel mit vorheriger Exposition gegen andere Coronaviren, lässt sich aus dem vorliegenden Datenmaterial nicht wirklich klären. Am ehesten könnte es noch zu Erkenntnissen führen, wenn man in verschiedenen Regionen verschiedenen Ansätze ausprobieren würde und sich ansähe, wozu das führt. Der Versuch Bodo Ramelows dazu wurde aber von der Kanzlerin schnell in das Reich der Unverzeihlichkeit befördert, das Ramelow sicher nicht betreten will.
Damit ist mir nicht ganz klar, was die „Exit-Strategie“ zur Zeit eigentlich sein soll. Für #FlattenTheCurve braucht man Infizierte. Für die Entwicklung von Medikamenten auch, und in gewissem Maße wohl auch für Impfstoffe. Beide Strategien würden mit einer Suppression des Infektionsgeschehens zu dem Punkt, wo es kaum Infizierte gibt, extrem in die Länge gezogen, mathematisch betrachtet möglicherweise um Jahrzehnte.
Um herauszufinden, ob die Kontaktbeschränkungen für die geringen Fallzahlen ursächlich und notwendig sind, wird man um das Experiment, inklusive seiner Risiken, nicht umhinkommen. Man könnte natürlich als Strategie formulieren, dass das in anderen Nationen mit Infizierten herausgefunden werden soll, und solange abzuwarten. Das könnte bezüglich der Zahl der Erkranken sogar ein second-mover advantage sein, allerdings natürlich um den Preis, länger als andere das öffentliche und wirtschaftliche Leben und insbesondere auch das Medizinsystem lahmzulegen, mitsamt vorhersehbarer Kosten und Opfer dadurch.
Irgendwann bleibt nur noch eine Einsicht von Herbert Wehner (19. Sekunde):