In der Walpurgisnacht kann man sich fürchten. Die Streiche der Dorfjugend, die Feuer, wie auch die nordischen Studentenparties fallen dieses Jahr weitgehend aus, doch da lese ich eine Nachricht, die vom Hexenkongress auf dem Brocken sein könnte: n‑tv, doch noch den etablierten Medien zughörig, titelt: „Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe?“, die Beschwörungsformel, die doch sonst knapp an Teufelsbuhlerei grenzt.
Der Artikel behandelt die von mir am 18. April besprochene Studie aus Stanford, die für Santa Clara County eine enorme Dunkelziffer an SARS-CoV‑2 Infektionen nahelegt, aus der eine Sterblichkeit ähnlich der Grippe folgen würde. Das hieße natürlich einerseits nicht, dass es Zeit zur Entwarnung ist, denn wenn niemand Vorimmunität hat, dann wäre die übliche Sterblichkeit der Grippe mal ungefähr zwei Dritteln der Bevölkerung bis zur Herdenimmunität doch eine sehr große Anzahl Toter. Aber andererseits würden, sollte sich das als korrekt und für andere Gegenden übertragbar herausstellen, die Zweifel an der weitgehenden Einschränkung von Grundrechten und Vernichtung von ökonomischen Existenzen lauter, insbesondere im Vergleich damit, dass man solches für die nicht wenigen Toten einer ’normalen‘ Grippesaison nicht im Ansatz zu tun pflegt. Die möglichst genaue Kenntnis der Dunkelziffer ist gleichzeitig die notwendige Grundlage jeder mathematisch plausiblen Strategie und politisch brisant.
„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“
Wahrhaft gespenstisch wird es allerdings, wenn man sich anhört, was das Robert-Koch-Institut zu dem Erkenntnisinteresse dieser Studie bezüglich der Verbreitung von SARS-CoV‑2 in der Bevölkerung zu sagen hat:
Doch gerade heute erst lehnte das Robert-Koch-Institut (RKI) flächendeckende Testungen auf Coronaviren erneut ab. „Wir raten weiterhin davon ab, generell alle Menschen zu testen“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Er begründete dies mit Unsicherheiten bei Menschen, die noch keine Symptome zeigten.
n‑tv, ‚Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe?‘, 30.04.2020
Ich habe schon in einem meiner ersten Artikel, der Besprechung des absolut unsäglichen Corona-Strategiepapiers des Innenministeriums, als Hauptfehler der Bundesregierung angegriffen, dass Framing, also das Management des Denkens der Bevölkerung, absolute Priorität eingeräumt wurde gegenüber der Neugier auf die Faktenlage und der Erarbeitung einer echten Strategie. Insbesondere hat schon dieses Papier eine Ermittlung der Dunkelziffer und die damit verbundene Abschätzung der wirklichen Sterblichkeit als „Herunterspielen“ explizit abgelehnt. Dass das Robert-Koch-Institut, zwar Behörde, aber doch eine mit wissenschaftlichem Anspruch im Namen, das ähnlich zu sehen scheint, wirft schwere Zweifel an seiner so notwendigen Arbeit auf.
Von Thomas de Maizière gibt es ja den berühmten Spruch „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“ auf die Frage nach den Gründen für die Absage eines Fußballspiels, anscheinend wegen einer Gefährdung durch Terroristen. Das ist natürlich, genauso wie das Argument mit dem „Gefühl falscher Sicherheit“, das auch Prof. Wieler vom RKI bemüht hat, eine Unmündigerklärung des Bürgers, die Ansicht, der Bürger müsste belogen werden, damit er keinen Blödsinn mache. Mit der Demokratie, in der das Volk das Regierungshandeln verstehen und bewerten soll, ist die Angst vor der Verunsicherung der Wahlschafe durch die Fakten schlicht nicht vereinbar.
Wenn überhaupt eine Strategie der Bundesregierung erkennbar ist, dann kann man diese Strategie als gescheitert bezeichnen
Es präsentiert die Bundesregierung also ein Trauerspiel, wenn auch eines, das wesentlich dem der meisten anderen westlichen Demokratien gleicht, und insofern nicht an spezifischen Personen festgemacht werden kann. Fragen des psychologischen Managements der Bevölkerung ersetzen Sachfragen, auf die nach Antworten gar nicht gesucht wird. Strategien wie #FlattenTheCurve werden als Hashtags und Tugendbeweis von Politik und Qualitätsmedien gedroschen, ohne irgendwie ihre Implikationen zu durchdenken, zu kommunizieren, und vermutlich ohne sie zu verstehen. Gleichzeitig scheitert die Politik nicht nur an schwierigen Problemen, sondern auch an durchaus beherrschbaren, wie der Corona-App, deren Erscheinen vor einer Impfung mit der Übergabe an SAP und Telekom zwei Wochen nach dem ursprünglich avisierten Auslieferungstermin fraglich wurde.
Wenn, soweit aus den bruchstückhaften Ankündigungen der Bundesregierung überhaupt eine Strategie erkennbar ist, die Strategie sein soll, bis zur Verfügbarkeit einer Impfung mit Tests und der App die Infektionszahlen niederzuhalten, dann kann man diese Strategie als gescheitert bezeichnen, wenn Massentests wegen „Unsicherheiten“ in der Bevölkerung politisch unerwünscht sind, vorhandene Testkapazitäten nicht genutzt werden, und die App wegen Unfähigkeit in weiter Ferne steht. Dieses Scheitern sollte die Bevölkerung in der Tat verunsichern. Hoffen kann man darauf, dass das Immunsystem und die Schaffenskraft der Menschen das Schlimmste verhindern.