Die eigentlich für Mitte April angekündigte ‚Corona-App‘ soll nun , Ende April, von einem Konsortium aus Telekom und SAP entwickelt werden. Ich tippe auf einen Auslieferungstermin 2023 und eine grobe Funktionsfähigkeit 2025. Nachdem zufällig am gleichen Tag der BER seine Nutzungsfreigabe durch das Land erhielt, befinden wir uns ein einem wilden Wettlauf, ob der Flughafen zuerst Passagiere abfertigen oder die App zuerst Corona-Verdachtsfälle warnen wird. Auf die App zu warten könnte jedenfalls mindestens zu einer Geduldsprobe werden, und das ist ein leicht nachvollziehbares Beispiel für das Versagen der Politik in dieser ganzen Krise.
Sieben Jahre und eine halbe Milliarde Euro später das Projekt ergebnislos abgebrochen
Man kann von Telekom und SAP denken, was man will, aber es dürfte wohl jedem, der diese Unternehmen kennt, klar sein, dass die Unternehmenskultur da nicht geeignet ist, eine dem Umfang nach sehr kleine Anwendung schnell und korrekt zu erstellen. Das sind Unternehmen mit riesigen Managementteams, die sich bevorzugt gegenseitig managen und dabei planen, wann man mit dem Planen anfangen soll und wie dabei die Zuständigkeiten sein sollen.
Als Extremfall hat Lidl versucht, SAP bei sich einzuführen, und sieben Jahre und eine halbe Milliarde Euro später das Projekt ergebnislos abgebrochen. Das ist wahrhaft der BER der Softwareentwicklung. Ich will jetzt gar keine Position beziehen, ob das mehr an SAP oder an der organisatorischen Komplexität der bearbeiteten Probleme liegt, aber es ist offensichtlich keine Empfehlung, dass die Firmenkultur von SAP zur schnellen und korrekten Erstellung einer einfachen, aber wichtigen Applikation passe. Und die Telekom und ihre Flexibilität kennen Sie ja ohnehin.
Ob sie es können oder nicht, sie haben ‚Augenhöhe‘
Klasse ist übrigens auch die Begründung der ausgewählten Projektpartner:
Eine Rolle bei der Auswahl der Partner soll gespielt haben, dass es sich um bekannte deutsche Marken handele, die auf Augenhöhe mit Apple und Google über deren Schnittstellen für die Bluetooth-Tracing-Lösungen verhandeln könnten.
Spiegel, ‚Telekom und SAP sollen Entwicklung übernehmen‘, 28.04.2020
Ob sie es können oder nicht, sie haben ‚Augenhöhe‘. Im selben Artikel werden wir informiert, „Absprachen und Kontakte zwischen Firmen und Politik fänden auf ‚Toplevel‘ statt“ – also zwischen Politikern und Managern, die das Traveling-Salesman-Problem für die Schwierigkeit des Abwimmelns von Staubsaugervertretern halten.
Als ein mahnendes Beispiel, wohin das führt, mag die Website dienen, mit der sich Amerikaner für Obamacare anmelden sollten. Die funktionierte nicht recht, kostete aber mehr als zwei Milliarden – wohlgemerkt für einen Online-Laden, der von ein paar Millionen Leuten einmal im Jahr besucht wird und Kunden ein paar Dutzend ähnlicher Produkte anbietet, also nicht gerade ein ungelöstes und unlösbares Problem. Das Scheitern war bei dieser Projektfinanzierung eigentlich vorprogrammiert. Retten hätte man das Projekt vielleicht dadurch können, dass sich jemand 90% des verfügbaren Geldes in Tasche gesteckt hätte und mit dem Rest jemanden die Implementierung hätte machen lassen, der das tatsächlich kann.
Kein Grund, warum alle die gleiche Implementierung verwenden sollten – das ist ja der Witz an offenen Standards
Nachdem man sich inzwischen anscheinend auf einen offenen Standard für eine dezentrale Lösung geeinigt hat, ist übrigens keineswegs ersichtlich, ob und warum man überhaupt ‚die deutsche Corona-App‘ braucht, und warum man nicht Anbieter, die das schnell und korrekt können, einfach den offenen Standard auf ihren Geräten oder mit eigenen Applikationen implementieren lässt. Die großen Telephonhersteller dürften dazu in sehr kurzer Zeit in der Lage sein, und das Projekt hat eine Größenordnung, bei der selbst einzelne Programmierer mit Talent und Afri-Cola etwas Schönes und tatsächlich Funktionierendes in Tagen auf die Beine stellen können. Es gibt bei dem offenen Standard eigentlich keinen Grund, warum alle die gleiche Implementierung verwenden sollten – das ist ja der Witz an offenen Standards. Wenn’s wirklich schnell gehen soll könnte man Preise ausloben, zu einem Bruchteil der Kosten, die bei SAP und Telekom für die reine Planungsphase anfallen.
Exemplarisch für den Umgang mit der Coronakrise?
Bei der Entwicklung dieser App ist nun für viele nachvollziehbar, dass eine politisierte Planung zu Zuständen wie beim BER führt, und zwar bei einem Projekt, das die Komplexität der Planung eines Flughafens nicht hat. Total und vorhersehbar verquaste Softwareprojekte dürfte der eine oder andere Leser in seinem Berufsleben schon erlebt haben, und viele werden sich die jetzt stattfindenden Meetings bildhaft vorstellen können.
Ich habe nun den schweren Verdacht, dass dieses leicht nachvollziehbare Exempel in der Tat exemplarisch für den Umgang mit der Coronakrise ist. Bei Problemen wie dem Hochfahren der Testkapazitäten fehlt mir die Erfahrung mit dem speziellen Problem, um sofort sehen zu können, wie und warum das verquast war, aber der Verdacht ist wohl erlaubt, dass auch da Argumente wie „Augenhöhe“ und Zuständigkeiten eine größere Rolle spielen als schnelle und korrekte Lieferung.
À propos Testkapazität: Wenn wir morgen die Corona-App hätten, wie würden wir eigentlich all die testen, bei denen das Telephon mit der entsprechenden Aufforderung piept? Wenn es lediglich heißt: „Ihr Test ist verfügbar wenn Sie ohnehin nicht mehr ansteckend sind“, die App mithin also auch bei korrektem Funktionieren nicht mehr leisten kann, als Leute willkürlich in Quarantäne zu schicken, dürfte das der Akzeptanz keinen Vorschub leisten.