Heute morgen (deutscher Zeit) ging die Debatte der beiden Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Herausforderin Kamala Harris gegen Amtsinhaber Mike Pence, über die Bühne. Die gute Nachricht zuerst: Es war im Gegensatz zur ersten Debatte Biden gegen Trump eine zivilisierte Veranstaltung. Hier können Sie die Debatte selber ansehen:
Beide Kandidaten sind häufig Fragen ausgewichen, und wegen der relativ geringen Bedeutung des Vizepräsidentenamtes war es zu großen Teilen eine Stellvertreterdebatte über die Kandidaten für das Präsidentenamt. Soweit, so absehbar.
Wie schon Biden in der ersten Debatte hatte auch Harris das Problem, sich als moderat zu präsentieren, und versprach direkt nacheinander, dass die Demokraten die Trump’sche Steuerreform zurücknehmen würden, und dass deswegen niemand mit weniger als 400.000 Dollar Jahreseinkommen mehr Steuern zahlen müsse, zwei Versprechungen, die nicht leicht in Einklang zu bringen sind. Pence hingegen reagierte eher ausweichend auf Fragen zu Covid-19 und zum Klimawandel.
‚Court Packing‘ zur Aufhebung der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs
Es gab aber eine hochinteressante Stelle, deren nähere Betrachtung sich lohnt. Das ist die Diskussion zur Frage des ‚court packing,‘ dem Stopfen des Obersten Gerichtshofs mit zusätzlichen Richtern, einer von manchen Mitgliedern der Demokratischen Partei geforderte Strategie zur Aufhebung der relativen Unabhängigkeit und Beständigkeit des Obersten Gerichtshofs.
Amerikanische Bundesrichter haben ihr Amt laut Verfassung lebenslang inne, und an die nötigen Mehrheiten für eine diesbezügliche Verfassungsänderung ist nicht zu denken. Der Kongress hat aber das Recht, die Organisation der Gerichte und damit auch die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof zu bestimmen. Daraus ergibt sich die Idee, dass man ein unkooperatives Gericht dadurch gefügig machen könnte, dass man einfach die Zahl der Richter erhöht und die neuen Richter politisch bequem benennt, etwas ähnlich dem Instrument des Pairsschubs in konstitutionellen Monarchien.
Richter als politische Vertreter der gerade bestehenden Mehrheit
Das Problem bei dieser Strategie ist natürlich nicht nur, dass sie ein offener Angriff auf die Gewaltenteilung ist, sondern noch mehr, dass sie offensichtlich nicht nachhaltig ist und den Obersten Gerichtshof als Institution entwerten würde. Wenn eine Partei den Damm durchbricht und damit anfängt, wer würde es dann der anderen Partei verdenken können, bei der ersten Gelegenheit nach Neuwahlen ihrerseits noch mehr Richter zu ernennen? Die Amerikaner wählen alle zwei Jahre ihren Kongress, so dass man, ist der Damm einmal gebrochen, ständig mehr Richter ernennen müsste, deren Zahl schnell jede praktische Gerichtsarbeit unmöglich machen und die Richter lediglich zu Vertretern der gerade bestehenden Mehrheit im Kongress machen würde. An diesem Punkt könnte man den Gerichtshof im Grunde abschaffen. Weil die Richter laut Verfassung lebenslänglich amtieren, wäre eine solche Entwicklung auch kaum umkehrbar.
Franklin D. Roosevelt hat diese Strategie 1937 verfolgt, ist damit aber gescheitert, obwohl seine eigene Partei den Kongress kontrolliert hat. Allerdings hat danach der Oberste Gerichtshof überraschend seine Meinung zu New Deal-Gesetzen, die nach vorher herrschender Meinung den Verfassungsrahmen sprengten, geändert. FDR hat seine Gesetzesprojekte auch ohne die radikalstmögliche Strategie durchgebracht, damit aber auch massiv politisches Kapital verloren, insbesondere die vorherige bedingungslose Unterstützung seiner eigenen Partei.
Trotz dieser schlechten Erfahrungen und der offensichtlichen riesigen Gefahren haben Politiker der Demokratischen Partei wie Senator Ed Markey und Teile der linksgerichteten Presse genau diese Strategie vorgeschlagen. Weil man darin mit guten Gründen einen Anschlag auf das mehr als zwei Jahrhunderte bewährte Prinzip der Gewaltenteilung sehen kann, haben die Wähler ein großes Interesse daran, wie die einflussreichsten Politiker der Demokraten das sehen.
Keine Antwort ist auch eine Antwort
Schon bei der Debatte vor einer Woche hat Kandidat Biden sich geweigert, auf diese Frage irgendeine Antwort zu geben:
Moderator Chris Wallace: Herr Vizepräsident [Biden], […] falls die Republikaner im Senat Richterin Barrett [für den Obersten Gerichtshof] bestätigen, ist es im Gespräch, den Filibuster abzuschaffen oder sogar den [Obersten] Gerichtshof zu stopfen, indem neue Richter hinzugefügt werden. […] Das wurde von einigen Ihrer Demokratischen Kollegen im Kongress vorgeschlagen. Meine Frage an Sie ist, Sie haben sich in der Vergangenheit geweigert, darüber zu reden: Sind Sie bereit, heute Nacht der amerikanischen Öffentlichkeit zu sagen, ob Sie die Abschaffung des Filibusters und das Stopfen des Gerichtes unterstützen werden oder nicht?
Joe Biden: Egal welche Stellung ich heute beziehe, das wird zu einem Thema. Das Thema ist, dass das amerikanische Volk sprechen sollte. Sie sollten wählen gehen. Sie sind gerade beim Wählen. Wählen Sie und lassen sie ihre Senatoren wissen, wie wichtig es ihnen ist.
Keine Antwort ist auch eine Antwort. Bei dieser ersten Debatte könnte man aber noch auf einen der völlig entgleisten Gesprächskultur geschuldeten Aussetzer hoffen, zumal sich Biden in der Vergangenheit gegen die Schaffung zusätzlicher Richtersitze zur Erzielung von Mehrheiten ausgesprochen hatte. Kamala Harris hat diese Hoffnung heute morgen klar und bewusst begraben.
Während weder Chris Wallace noch Donald Trump auf die Nichtantwort Bidens nachgefasst haben, hat Pence das mit Harris gemacht, und nicht ein- sondern dreimal gefragt, ob sie den Gerichtshof stopfen wolle oder nicht. Die ersten beiden Male hat sie die Frage vollkommen ignoriert und über andere Themen gesprochen. Beim dritten Mal war die Antwort dann diese:
Mike Pence: Sie wissen, das Volk hat eine ehrliche Antwort verdient, und, falls Sie es noch nicht herausgefunden haben, die ehrliche Antwort ist, dass sie den Obersten Gerichtshof stopfen werden, wenn sie irgendwie diese Wahl gewinnen. Männer und Frauen, ich muss Euch Leuten überall in diesem Land sagen, wenn Sie die Gewaltenteilung wertschätzen, dann müssen Sie am dritten November den Biden/Harris Wahlvorschlag zurückweisen, Präsident Trump wiederwählen, und wir werden hinter dieser Gewaltenteilung in einem neunsitzigen Obersten Gerichtshof stehen.
Kamala Harris: Ja. Lassen Sie uns über das Stopfen des Gerichtshofs reden. Lassen Sie uns über die Fakten reden.
Mike Pence: Bitte.
Kamala Harris: Ja, ich fange gerade an. Also, die Trump-Pence-Regierung hat, weil, ich sitze im Justizkomittee des Senats, Susan, wie Sie erwähnten, und ich habe die Ernennungen für Lebensstellungen bei den Bundesgerichten erlebt, Bezirksgerichte, Berufungsgerichte, Menschen, die rein ideologisch sind, Menschen, die von Juristenorganisationen beurteilt wurden und für nicht kompetent oder ungenügend befunden wurden. Und wissen Sie, dass von den fünfzig Menschen, die Präsident Trump für Lebensstellungen an den Berufungsgerichten nominiert hat, kein einziger schwarz ist? Das ist, was ich gemacht habe. Sie wollen über das Stopfen eines Gerichts reden? Lassen Sie uns darüber reden. […]
Mike Pence: Ich möchte festhalten, dass sie die Frage nie beantwortet hat. Vielleicht wird Joe Biden diese Frage in der nächsten Debatte beantworten, aber ich denke, das amerikanische Volk kennt die Antwort.
Harris hat auf dreimalige Nachfrage und den direkten Vorwurf, mit der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit einen Grundpfeiler der Verfassungsordnung angreifen zu wollen, nicht geantwortet. Als Juristin ist ihr die Tragweite dieses Vorwurfs bekannt, und bei der dreimaligen Wiederholung in einer recht ruhigen Diskussion kann sie ihn auch nicht überhört oder versehentlich übergangen haben. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Legitimitätsverlust der Gerichte als eigentliches Ziel
Oder schlimmer noch, Harris‘ Antwort könnte eine Antwort gewesen sein. Bei der dritten Nachfrage scheint ihre Antwort, will man sie nicht als reines Ablenkungsmanöver sehen, darauf hinauszulaufen, dass das wahre Gerichtsstopfen nicht die Ausweitung der Sitze am Obersten Gerichtshof sei, sondern die Ernennung von Richtern durch den Republikaner Donald Trump, an deren Stelle ein Demokrat vielleicht andere Richter ernannt hätte, mit aus ihrer Sicht ungenügender Repräsentation Schwarzer.
Das könnte man dann eigentlich nur so verstehen, dass die Gerichte als Institutionen des alten, weißen, konservativen Mannes ohnehin schon illegitim seien, und der Legitimitätsverlust des Obersten Gerichtshofs nachdem er gestopft würde kein Nachteil dieser Strategie sondern ihr eigentliches Ziel, mindestens ein Vorteil sei. Es reicht in dieser Lesart ihrer Antwort nicht, dafür zu arbeiten, dass man durch gewonnene Wahlen selber in die Lage versetzt wird, entsprechend dem normalen Verfassungsprozess auch wieder Richter ernennen zu dürfen, sondern die Institutionen der Gerichte als solche sollten geschleift werden.
Reality-TV-Stern Trump in der unerwarteten Rolle als Katechon
Man wird sehen, inwieweit die Republikaner in der Lage sein werden, dieses Schweigen beider Kandidaten der Demokraten zum Stopfen des Obersten Gerichtshofs in politische Münze umzusetzen. Bei vielen Themen haben die Kandidaten der Demokraten Kreide gefressen und bisweilen sogar Positionen Donald Trumps direkt übernommen, auch wenn dabei Seltsamkeiten herauskommen, wie dass die Steuerreform zurückgenommen, die Steuern aber nicht erhöht werden sollen.
Ein angekündigter massiver Angriff auf die Gewaltenteilung nebst anderer radikaler Aussagen könnte geeignet sein, dem Wahlkampf wieder mehr den Charakter eines Richtungs- statt eines Kompetenz- oder Sympathiewahlkampfs zu geben: Die radikalen Demokraten, so könnten die Republikaner nicht ohne Grund argumentieren, wollten die von oben die Gewaltenteilung angreifen und von unten mit politisch vernetzten brandstiftenden Fußtruppen Druck machen. Sie wollten die Verfassung angreifen, was auch Joe Biden nicht wollen wird, aber nicht verhindern kann, ein Wahlsieg der Republikaner aber schon. Dagegen stünde der Reality-TV-Stern Donald Trump in der unerwarteten Rolle als Katechon einer von vielen Amerikanern durchaus mit religiösen Konnotationen verehrten Verfassung.