Der Spiegel hat einen Beitrag mit der Reaktion dreier Menschen auf die päpstliche Enzyklika „Fratelli tutti“. Bemerkenswert scheint mir die Reaktion der promovierten Theologin Juliane Eckstein zu sein, allerdings nicht wegen ihres theologischen Gehaltes sondern als ein Zeichen der Panikstimmung unserer Zeit:
Dass ‚alles miteinander verbunden ist‘, dass Ökologie und Menschenrechte, Politik und Glauben nicht unabhängig voneinander agieren, hat der Papst schon auf der Amazonassynode und in seiner Öko-Enzyklika ‚Laudato Si‘ klar umrissen. Die Corona-Pandemie ist der Extremfall, der dies bestätigt. Aber der Papst inszeniert sich nicht als Prophet. Er betont, dass Covid-19 keine Strafe Gottes ist, sondern die Wirklichkeit, ‚die seufzt und sich auflehnt‘.
Damit hinterlässt der Papst eine theologische Leerstelle, die es in den kommenden Jahren zu füllen gilt. Denn dahinter stehen elementare Fragen, die etwa mithilfe der Prozesstheologie beantwortet werden: Ist Gott allmächtig oder könnte Gott eingreifen, tut es aber absichtlich nicht? Ist er vielleicht in der Welt und leidet mit? Franziskus lässt diese Fragen offen.
Noch stecken wir mittendrin in der Pandemie. Aber wir wissen: Im Alten Testament haben Katastrophen immer zu einer Weiterentwicklung des Gottesbildes geführt. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir anders aus der Krise herausgehen müssen, als wir hineingekommen sind.
Juliane Eckstein
Damit wird Covid-19 für Frau Eckstein zum „Extremfall“ einer Katastrophe, zu einer Katastrophe, die man mit den im alten Testament beschriebenen Vernichtungen vergleichen könnte, von denen noch zweieinhalbtausend Jahre später gesprochen wird, zu einer Herausforderung für die Theodizeefrage. Das ist für sich genommen offensichtlich lächerlich.
Eine besonders schwere, aber keineswegs eine katastrophale Grippesaison
Es werden weltweit eine Million Todesfälle durch Covid-19 berichtet. Die Qualität dieser Zahlen, ihre Vergleichbarkeit zwischen ganz unterschiedlichen Ländern, die Unterscheidung, ob jemand an oder mit Covid-19 gestorben ist, wollen wir einmal hintanstellen. Jedenfalls ist offensichtlich, dass die Verstorbenen großenteils relativ alt und mit erheblichen Vorerkrankungen sind, salopp gesagt viele davon auch bald an etwas anderem verstorben wären, und die Verluste schlichtweg nicht vergleichbar sind mit einer Million Todesfällen beispielsweise in einem Krieg, was nicht nur in den bekannten Weltkriegen, sondern auch in so unbeachteten Kriegen wie dem zweiten Kongokrieg 1998–2003 weit übertroffen wurde.
Wir haben knappe acht Milliarden Erdenbürger, und schon dieser Umstand alleine führt zwangsläufig dazu, dass es jedes Jahr eine Unzahl von Todesfällen gibt, die das menschliche Vorstellungsvermögen von Einzelschicksalen sprengen muss.
Laut WHO verstarben beispielsweise 2016 rund neun Millionen Menschen an koronaren Herzerkrankungen, knapp sechs Millionen an Schlaganfällen, jeweils rund drei Millionen an chronischen obstruktiven Lungenerkrankungen und an Infektionen der unteren Atemwege, und so weiter. Die Anzahl der Toten durch Lungenerkrankungen wird 2020 höher sein als in anderen Jahren, aber nicht dramatisch. Mehr Grund zur Betroffenheit bieten da vielleicht schon eher zwei Millionen Tote durch Durchfallerkrankungen, fast alle in den ärmsten Ländern, weil relativ preiswerte Hygienemaßnahmen davor sehr gut schützen können. Im Durchschnitt sollen durch Grippeerkrankungen im Jahr rund 600.000 Menschen versterben. Covid-19 wäre demgegenüber eine besonders schwere, aber keineswegs eine katastrophale Grippesaison. Ob das an den Schutzmaßnahmen liegt oder am Wesen der Erkrankung selbst, sei einmal dahingestellt.
Eher ein Ansporn zu einer Theologie der Hoffnung auf Gottes Wirken im Fortschritt der Weltgeschichte
Es scheint mir vor diesem Hintergrund extrem unwahrscheinlich, dass irgendjemand von Covid-19 zu neuen Antworten auf Fragen motiviert wird, die sich intelligente Menschen seit Jahrtausenden gestellt haben, nicht unbedingt immer mit befriedigenden Ergebnissen. Für Angriffe auf das Grundvertrauen, dass Gott es gut eingerichtet hat, bieten auch andere Themen weitaus mehr Stoff: Sei es im Kleinen die Ernährungsweise der Schlupfwespen, die Charles Darwin an Gott hat zweifeln lassen, oder seien es im Großen wohlbekannte Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, die bei weitaus mehr Menschen zu solchen Zweifeln geführt haben.
Alles in allem geht es der Menschheit zur Zeit ausgesprochen gut. Noch nie haben so viele Menschen so gut gelebt, noch nie hatten so viele so gute Chancen auf ein einigermaßen gesundes und freies Leben. Bei allen Problemen: Die objektive Situation wäre im historischen Vergleich eher ein Ansporn zu einer Theologie der Hoffnung auf Gottes Wirken im Fortschritt der Weltgeschichte als zu einer Neubeantwortung der Theodizeefrage. Dass Frau Eckstein sie als solche sieht, sich in einer biblischen Katastrophe wähnt, nachdem letztes Jahr viele in Panik waren, dass die Erde ‚verbrenne‘, hat nichts mit äußeren Umständen zu tun, und alles mit einer weinerlichen und paniksüchtigen Grundstimmung unserer Zeit.
Die psychologische und theologische Frage unserer Zeit scheint mir weniger zu sein, warum Gott Katastrophen schickt, auch wenn diese Frage für jeden, der auch nur einen geliebten Menschen verliert, immer aktuell bleiben wird; vielmehr ist es die Frage, warum sich Menschen, deren Lebensverhältnisse ausgezeichnet sind und ihnen alle Möglichkeiten geben, von Katastrophen biblischen Ausmaßes getroffen fühlen.
Bild: Tod aller Erstgeborenen und Finsternis über Ägypten, Spanien, fünfzehntes Jahrhundert
Ein schöner Artikel. Vorschlag: das Adjektiv „alttestamentlich“ trifft es besser, „testamentarisch“ klingt nach Notar.
Stimmt. Ich habe (nach dem Lesen ihres Kommentars, nicht beim Schreiben des Artikels) den Duden befragt, und der gibt eine negative Konnotation von „alttestamentarisch“ an, wo es nicht wörtlich gemeint ist, wie bei „alttestamentarischer Strenge“. Vielleicht bin ich so auf diese Form gekommen.
Das Virus selber ist garantiert keine Katastrophe biblischen Ausmaßes, ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, ob unsere Reaktion auf selbiges nicht doch noch eine solche Katastrophe biblischen Ausmaßes evozieren könnte. Die Maßnahmen wirken auf mich zu nicht geringen Teilen wie einem abergläubischen Wahn entsprungen. Und die Lockdowns werden mit Sicherheit weltweit viele Millionen Tote als Kollateralschaden der aus unserer Angst geborenen Maßnahmen zu Folge haben. Vielleicht hat ja auch nicht Gott beim Turmbau zu Babel die Sprachen verwirrt, sondern Geist und Sprache von Menschen, die glaubten so seien zu können wie Gott, haben sich ganz von alleine nur auf Grund dieses Größenwahnes verwirrt. Auch wir glauben mit göttlicher Allmacht ausgestattet zu sein, sei es beim Klimawandel oder bei der Virusbekämpfung und machen doch zugleich alles falsch. Auch wenn wir uns den Schaden selbst zuzurechnen hätten, könnte es sich dabei um etwas handeln, das historische Ereignisse übersteigt und schnell mythologische Dimensionen annimmt. Mir ist jedenfalls nicht klar, wie Historiker so etwas jemals aufarbeiten können sollen. Und wie schnell ist die Schuld weg von uns auf das „sieghafte“ Virus mit dem „laubumkränzten“ Namen verschoben…