In Amerika, diesmal im beschaulichen Städtchen Kenosha an der Grenze zwischen Illinois und Wisconsin, kam es wieder einmal zu einem Vorfall, bei dem ein Schwarzer von Polizisten angeschossen wurde. Obwohl der Vorfall völlig ungeklärt ist, ist die Geschwindigkeit der Verurteilung der Beamten nicht nur durch die üblichen Verdächtigten, sondern sogar durch ihren eigenen Gouverneur erstaunlich. Weniger erstaunlich ist mittlerweile die folgende Gewaltorgie.
„Tun Sie es nicht!“
Aber einmal von vorne: Auslöser der Sache war nicht so sehr der Vorfall selbst, sondern ein davon, wohl von einem Haus auf der anderen Straßenseite, aufgenommenes Video:
Einigermaßen unzweifelhaft ist, dass sieben Schüsse abgegeben wurden. Aus welchem Grunde sie abgegeben wurden, ist dagegen völlig schleierhaft. Als die Gruppe hinter dem Auto hervorkommt, haben die Beamten bereits ihre Waffen gezogen und auf Jacob Blake gerichtet, der um sein Auto herum zur Fahrertür geht. Die Beamten rufen ihm wiederholt und eindringlich zu „Don’t you do it, don’t you do it!“
Dieser Ausruf „Tun Sie es nicht!“ hat nur dann überhaupt eine Bedeutung, wenn jedenfalls der Rufende davon ausgeht, dass „es“ eine von beiden Seiten verstandene Bedeutung hat. Der rufende Polizist muss also rein sprachlich davon ausgegangen sein, dass Blake ein bestimmtes „es“ tun wollte, das dann Anlass zur Schussabgabe war.
Wir wissen nun nicht, worum es sich bei diesem „es“ gehandelt haben könnte. Es wäre beispielsweise nicht ganz unplausibel, dass Blake den Beamten mit bewaffneter Gewalt gedroht hat, womit der Gang zum Fahrersitz als Holen einer im Auto mitgeführten Waffe erscheinen würde.
Bayes’sche a‑priori Annahme: Es gibt einen Grund
Laut Zeugenaussagen sollen die Beamten Blake bereits vor dem Einsetzen des Videos „Drop the knife!“ zugerufen haben und ohne Wirkung eine Elektroschockwaffe auf ihn abgeschossen haben. Irgendeine Art der Auseinandersetzung hat also ganz offensichtlich vor den im Video dargestellten Ereignissen stattgefunden, aber wir wissen nicht, was passiert ist. Die Kreispolizei in Kenosha ist noch nicht mit Körperkameras ausgestattet, so dass die wesentliche Informationsquelle wohl die Aussagen der Beteiligten und von Zeugen sein werden.
Bis es soweit ist, lässt sich zur Rechtfertigung der Schüsse wenig sagen. Wir haben aber den Erfahrungswert, dass es in der riesig überwiegenden Anzahl der Schusswaffeneinsätze durch Polizisten einen Grund gibt. Nicht immer ist es ein guter Grund, nicht immer ist ein rechtlich nicht verbotener Schuss akzeptable Polizeiarbeit, aber es kommt extrem selten vor, dass Polizisten (oder sonst jemand) eine Person mit einer ihnen nicht genehmen Hautfarbe sehen und dann ohne weitere Vorfälle erschießen. Als Bayes’sche a‑priori-Annahme kann man deshalb setzen, dass es nahezu sicher einen Grund für die Schüsse gab, gut oder weniger gut. Für die nähere Bewertung wird einem nichts übrig bleiben, als abzuwarten.
Der Gouverneur weiß es schon: Schuldig
In starkem Gegensatz zu dieser Ungewissheit und der starken Vermutung, dass die Schüsse jedenfalls einen Grund gehabt haben werden, ob gut oder schlecht, hat sich der Gouverneur Tony Evers schon Stunden nach den Schüssen auf Twitter zu Wort gemeldet und mindestens implizit die Beamten verurteilt:
Gouverneur Evers gibt zwar zu, die Details nicht zu kennen, aber in Formulierungen wie, dass Blake nicht der „erste Schwarze [großgeschrieben] Mann“ sei, „der durch Individuen in der Rechtspflege in unserem Staat oder unserem Land erschossen oder verletzt oder gnadenlos getötet wird“, ist seine Interpretation bereits enthalten: Schuldig!
In der Haut der beteiligten Polizisten, die sich übrigens sofort um Blake gekümmert haben, der dann im Krankenhaus behandelt wurde und da offenbar mittlerweile in stabiler Verfassung ist, möchte man da wirklich nicht stecken. Aber es geht auch ein Signal an die Polizei als Ganzes und an den Staat als Ganzes: Wenn es sich um einen „Schwarzen Mann“ handelt, dann gibt es so etwas wie Notwehr offensichtlich nicht einmal als plausible Möglichkeit, die zu prüfen ist. Weiterhin weiß jeder Polizist, dass im Zweifel der Regierungschef des Staates nicht hinter ihm steht, auch nicht neutral ist, sondern dass er gegen ihn sein wird. Dass das Konsequenzen auf die Arbeitsmoral der Polizei, auch auf die schlichte Durchführbarkeit der Aufgabe haben wird, ist offensichtlich.
Angezündet, entglast, verätzt, getroffen
Wenn schon von allerhöchster Stelle die beteiligten Beamten sofort verurteilt werden und nur der juristische Feinsinn Gouverneur Evers davon abhält, gleich noch den Begriff ‚Mord‘ zu verwenden, dann braucht es auch nicht zu verwundern, dass etwas schlichtere Naturen das Vorliegen eines Mordes für selbstverständlich ansehen und auf ihre Art zu ‚Protestieren‘ anfangen:
Autos und Lastwagen wurden angezündet, Gebäude entglast, Behälter mit Augen und Haut verätzendem Bleichmittel wurden geworfen, und ein Polizist wurde von einem geworfenen Stein gefährlich verletzt. Die Polizei ihrerseits reagierte mit Gummigeschossen und Reizstoffen und der Kreis verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.
Entscheidung zwischen Anbiederung und Härte
Immerhin: Der gleiche Gouverneur Evers, der sofort die beteiligten Beamten verurteilt hat, hat auch gleich die Nationalgarde mobilisiert und nach Kenosha beordert, ein Schritt gegen den sich die Bürgermeisterin des etwa eine Autostunde entfernten Chicago bei ähnlichen Ausschreitungen massiv gesträubt hatte – die lässt nur ihr Wohnhaus von vielen Dutzenden Polizisten abschirmen und ließ die Stadt sonst ausgeliefert.
Diese relativ harte Reaktion eines sofortigen Militäreinsatzes lässt auch Zweifel aufkommen, ob Gouverneur Evers seine Verurteilung der Polizisten überhaupt so gemeint hat, ob er selber daran glaubt, dass ein schweres Fehlverhalten von deren Seite nach derzeitiger Erkenntnislage wahrscheinlich sei. Man könnte die Sache auch so interpretieren, dass er sich ohne jedes Rückgrat durchlavieren will, und hoffte, mit einer sofortigen Beschuldigung der Beamten die Geister von Burn, Loot, Murder, wie ‚BLM‘ auch interpretiert wird, bändigen zu können, offensichtlich ohne Erfolg. Irgendwann wird man sich aber in einem Regierungsamt zwischen Anbiederung und Härte entscheiden müssen – beides gleichzeitig ist schwer durchzuhalten und wird sicher nicht dazu führen, dass man die Stimmen beider Seiten bekommt.