Fern­stu­di­um für alle?

Die Umstel­lung des Lehr­be­triebs der Uni­ver­si­tä­ten auf Online-Unter­richt stellt die uni­ver­si­tas von Leh­ren­den und Ler­nen­den als phy­sisch zusam­men­kom­men­de Gemein­schaft in Fra­ge. Bes­ten­falls ent­steht dar­aus ein kos­mo­po­li­ti­scher Lehr­be­trieb, der sich vom Ort der Heim­uni­ver­si­tät abkop­peln kann. Schlimms­ten­falls schot­tern wir gera­de die Bil­dung gan­zer Jahrgänge.

Die Uni­ver­si­tä­ten welt­weit sind im Zuge von Covid-19 zu Online­an­ge­bo­ten über­ge­gan­gen. Das wirft inter­es­san­te Fra­gen für die Zukunft des Stu­di­ums auf, bei denen sich die Uni­ver­si­tä­ten fra­gen las­sen müs­sen, wie weit sie sich als Insti­tu­tio­nen noch für zeit­ge­mäß halten.

Stu­dent zu sein bedeu­te­te ein­mal, dass man zu Lehr­ver­an­stal­tun­gen einer an einen Ort gebun­de­nen Uni­ver­si­tät geht

Ein inter­es­san­ter Auf­re­ger dabei ist die Fra­ge, wie mit aus­län­di­schen Stu­den­ten zu ver­fah­ren ist, deren Uni­ver­si­tä­ten die­sen Herbst nur Fern­un­ter­richts-Ange­bo­te machen, oder wo jeden­falls der betrof­fe­ne Stu­dent nur Fern­un­ter­richts-Ange­bo­te belegt oder in sei­nem Fach bele­gen darf. Es wur­de auch in Deutsch­land Zeter und Mor­dio gegen den bösen Trump geschrie­en, des­sen Ein­wan­de­rungs­be­hör­de kei­ne Grund­la­ge für Stu­den­ten­vi­sa sah, wenn kei­ne Lehr­ver­an­stal­tun­gen vor Ort belegt wer­den. Doof nur, dass die Rechts­la­ge in Deutsch­land auch nicht anders ist.

Man wird in bei­den Län­dern und auch in ande­ren wohl gewis­se Zuge­ständ­nis­se zur Ver­mei­dung von Här­ten machen, aber am grund­le­gen­den Pro­blem ändert das nichts: Stu­dent zu sein, das bedeu­te­te ein­mal im Regel­fall, dass man zu Lehr­ver­an­stal­tun­gen einer an einen Ort gebun­de­nen Uni­ver­si­tät geht, bei denen sich Leh­ren­de und Ler­nen­de phy­sisch begeg­nen. Zu die­sem Zweck kann man auch in vie­len Län­dern ein Visum für die Ein­rei­se bekom­men, das man als Lang­zeit­tou­rist oder zum Arbei­ten so nicht oder nur schwe­rer bekom­men wür­de. Wenn es nun kei­nen Prä­senz­un­ter­richt mehr gibt, über­haupt oder für einen bestimm­ten Stu­den­ten, gar die Uni­ver­si­tä­ten den Stu­den­ten davon abra­ten, sich auf oder um den Cam­pus auf­zu­hal­ten, dann stellt sich die Fra­ge nach der Recht­fer­ti­gung eines sol­chen Studentenvisums.

Nun hat ein Auf­ent­halt als Stu­dent im Aus­land frei­lich noch ande­re Funk­tio­nen als den rei­nen Besuch von Lehr­ver­an­stal­tun­gen. Durch die voll­stän­di­ge Immersi­on in der Spra­che und Kul­tur wird man sel­bi­ge offen­sicht­lich schnel­ler ler­nen als nur durch Online-Kur­se, bei denen man sobald der Lap­top zuge­klappt ist wie­der in der hei­mi­schen Kul­tur ist. Die­ser Lern­ef­fekt geht aber weit­ge­hend ver­lo­ren, wenn Begeg­nun­gen vor und nach den Lehr­ver­an­stal­tun­gen, in der Men­sa, beim Sport usw. ohne­hin abge­schafft wer­den sol­len. Sozia­le Distan­zie­rung ver­trägt sich nicht mit dem Ler­nen frem­der Spra­chen und Kul­tu­ren. Wer das anstrebt, der ver­schiebt sei­ne Plä­ne wohl so oder so bes­ser, bis ’nicht mehr Coro­na ist.‘

Die Begeis­te­rung und der Arbeits­auf­wand ver­schie­de­ner Pro­fes­so­ren unter­schei­den sich massiv

Die vom neu­en Fern­un­ter­richt für alle auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen beschrän­ken sich aber nicht auf die Situa­ti­on aus­län­di­scher Stu­den­ten. Wenn die Teil­nah­me an Unter­richts­ver­an­stal­tun­gen via Fern­un­ter­richt als prin­zi­pi­ell ver­gleich­bar mit der per­sön­li­chen Teil­nah­me ange­se­hen wird, dann stellt sich doch die Fra­ge, ob es über­haupt noch Sinn macht, Lehr­ver­an­stal­tun­gen an eine bestimm­te Uni­ver­si­tät zu kop­peln? Die Hoch­schu­len der Euro­päi­sche Uni­on haben ja einen ziem­li­chen Auf­wand getrie­ben und etwas aus dem ursprüng­li­chen Kon­text abge­lös­te eng­li­sche Begrif­fe für die admi­nis­tra­ti­ven Ein­hei­ten des Stu­di­ums ein­ge­führt, gera­de um Por­ta­bi­li­tät inner­halb der EU her­zu­stel­len. Soll­te es da Stu­den­ten nicht erlaubt sein, sich ihre ‚cre­dit points‘ mit Kur­sen in wil­der Mischung aus Uni­ver­si­tä­ten der gesam­ten EU zusam­men­zu­sam­meln, damit sie nun statt eines Diploms ihren Bachelor’s oder Master’s bekommen?

Fan­gen wir als ein­fachs­tes Bei­spiel ein­mal mit Mas­sen­vor­le­sun­gen an, die Sor­te, die an ame­ri­ka­ni­schen Hoch­schu­len als ECON-101 für Ein­füh­rung in die Mikro­öko­no­mik bezeich­net wird, usw. Das Mate­ri­al ist grund­sätz­lich zwi­schen ver­schie­de­nen Hoch­schu­len eini­ger­ma­ßen ver­gleich­bar, aber die Ver­mitt­lungs­fä­hig­keit, die Begeis­te­rung und der Arbeits­auf­wand ver­schie­de­ner Pro­fes­so­ren, wel­che die­se Ver­an­stal­tun­gen hal­ten, unter­schei­den sich mas­siv. Der eine hält in frei­er Rede einen fes­seln­den und ver­ständ­li­chen Vor­trag, der die Intui­ti­on der jewei­li­gen Dis­zi­plin ver­mit­telt, und dem ande­ren war die Lehr­tä­tig­keit immer schon läs­tig und über die Jah­re nimmt er das Wort ‚Vor­le­sung‘ immer wört­li­cher. Vie­le Fra­gen kann man oft­mals wegen der gro­ßen Anzahl der Stu­den­ten wäh­rend und nach der Vor­le­sung eh nicht stellen.

Braucht es unter die­sen Umstän­den wirk­lich an jeder Uni­ver­si­tät einen hoch­wür­di­gen Ordi­na­ri­us, der die­se Vor­le­sung hält, oder wären die Stu­den­ten nicht bes­ser bera­ten, sie sich von jeman­dem anzu­se­hen, der dafür bekannt ist, sie mit beson­de­rer Exzel­lenz zu hal­ten? Und, nach­dem die Sache ohne­hin nicht sehr inter­ak­tiv ist, muss der die Vor­le­sung jedes Jahr hal­ten, oder wäre es nicht sinn­vol­ler, wenn er sie ein­mal in exzel­len­ter Qua­li­tät, mit mas­si­ver Vor­be­rei­tung, hält und das dann ein paar Jah­re lang ver­wen­det wird? Damit wür­de sich das Hal­ten von Mas­sen­vor­le­sun­gen dem Ver­fas­sen von Lehr­bü­chern annä­hern. Der Aus­tausch mit Kom­mi­li­to­nen ist damit frei­lich sehr ein­ge­schränkt, könn­te viel­leicht durch Dis­kus­si­ons­fo­ren gesche­hen, aber das ist bei der Fern­vor­le­sung immer so.

Ein wenig geht es übri­gens schon in die­se Rich­tung, denn man­che Uni­ver­si­tä­ten stel­len vie­le Vor­le­sun­gen kos­ten­los für alle Inter­es­sier­ten ins Inter­net. Wenn man mit dem Eng­li­schen klar­kommt oder klar­kom­men will, dann lohnt sich bei­spiels­wei­se für vie­le inge­nieurs­wis­sen­schaft­li­che The­men, aber auch ande­re, die Open­Cour­se­Wa­re des MIT. Ähn­li­che Ange­bo­te, teil­wei­se nicht ganz so schön unter einem Dach auf­be­rei­tet, gibt es auch von ande­ren Spit­zen­uni­ver­si­tä­ten. Wäre die För­de­rung ähn­li­cher Samm­lun­gen der bes­ten Vor­le­sun­gen in Deutsch­land oder der EU nicht eine sinn­vol­le­re staat­li­che Auf­ga­be als öffent­lich-recht­li­che Zwangs­un­ter­hal­tung? (Als Kind konn­te ich immer­hin noch Tele­kol­leg gucken…)

Auf­lö­sung der räum­li­chen Distan­zen und gleich­zei­ti­ge Auf­lö­sung der als phy­si­sches Zusam­men­kom­men ver­stan­de­nen universitas

Mas­sen­vor­le­sun­gen wer­den es aber für ein Stu­di­um (hof­fent­lich) nicht tun, son­dern es müs­sen Übun­gen, Semi­na­re, wie auch immer man das nennt, jeden­falls inter­ak­ti­ve Ver­an­stal­tun­gen her, für die Wis­sen­schaf­ten, deren Gegen­stand nicht das geschrie­be­ne Wort ist, auch die prak­ti­sche Beschäf­ti­gung im Labo­ra­to­ri­um, Muse­um, Obser­va­to­ri­um, der Natur, was auch immer. Eben­so müs­sen eige­ne Arbei­ten und Leis­tungs­nach­wei­se her.

Bei die­sen Ver­an­stal­tun­gen fragt es sich nun, ob Online-Ver­an­stal­tun­gen mit inter­ak­ti­ver Teil­nah­me jeden­falls in Tei­len ein adäqua­ter Ersatz für Prä­senz­ver­an­stal­tun­gen sind. Ist das so, dann erschie­ne mir das als ein star­kes Argu­ment, die Kopp­lung der Ver­an­stal­tun­gen an die Heim­uni­ver­si­tät auf­zu­ge­ben. War­um soll­te ein Stu­dent an einer Uni­ver­si­tät in Athen kei­ne cre­dit points in Reykja­vík statt in Athen online ein­sam­meln dür­fen wenn ihm das Semi­nar da bes­ser gefällt? Per­sön­lich anwe­send ist er ja in bei­den Fäl­len nicht. Sprach­kennt­nis­se natür­lich vor­aus­ge­setzt, aber die Bele­gung von inter­ak­ti­ven Kur­sen in einer Fremd­spra­che ist auch eine exzel­len­te Mög­lich­keit, vor­han­de­ne Sprach­kennt­nis­se zu vertiefen.

Wenn wir ein­mal anneh­men, dass der coro­nabe­ding­te Online-Betrieb der Uni­ver­si­tä­ten als Fern­uni­ver­si­tä­ten jeden­falls für bestimm­te Arten von Ver­an­stal­tun­gen gleich­wer­tig funk­tio­niert, dann sprä­che das mei­ner Ansicht nach für eine mas­si­ve Ent­kopp­lung der Mög­lich­keit, cre­dit points für einen Abschluss zu erwer­ben, von einer bestimm­ten Uni­ver­si­tät. Wenn man erst­mal online geht, dann sind räum­li­che Distan­zen ohne­hin auf­ge­löst. Mit die­ser Auf­lö­sung der räum­li­chen Distan­zen und der gleich­zei­ti­gen Auf­lö­sung der als phy­si­sches Zusam­men­kom­men ver­stan­de­nen uni­ver­si­tas von Leh­ren­den und Ler­nen­den löst sich dann aber logi­scher­wei­se die Uni­ver­si­tät sel­ber auf, und man hät­te eher eine Art EU-wei­ter, dem Anspruch nach glo­ba­ler, Universität. 

Wir schot­tern gera­de die Bil­dung gan­zer Studentenjahrgänge

Für man­che Arten von Ver­an­stal­tun­gen in man­chen Fächer könn­te das in der Tat eine Per­spek­ti­ve sein. Für ande­re eher nicht. Eine lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Pro­mo­ti­on, bei der man sei­nen Dok­tor­va­ter nur ein­mal im Jahr per­sön­lich besucht, scheint denk­bar. Von einem Arzt, der sei­ne Appro­ba­ti­on aus­schließ­lich Online-Kur­sen ver­dankt, woll­te sich wohl nie­mand behan­deln las­sen, auch dann nicht, wenn die­se Kur­se für das, was sie sind, sehr hoch­wer­tig und der Stu­dent begabt und flei­ßig waren.

Es wäre in einem sol­chen Sys­tem der auf­ge­lös­ten Uni­ver­si­tät natür­lich das Pro­blem der Allo­ka­ti­on zu lösen, wenn beson­ders vie­le Stu­den­ten einen bestimm­ten inter­ak­ti­ven Kurs eines bestimm­ten Insti­tuts oder gar eines bestimm­ten Pro­fes­sors bele­gen wil­len. Eine Prio­ri­tä­ten­lis­te nach Hei­mat­uni­ver­si­tät, von wel­cher ein Abschluss ange­strebt wird, Nati­on, EU (oder EFTA) Mit­glied­schaft, und dann Gast­hö­rer und Stu­den­ten mit Heim­uni­ver­si­tä­ten außer­halb der EU wäre nicht sehr kos­mo­po­li­tisch, aber doch ein Fort­schritt gegen­über der Bin­dung an die Heim­uni­ver­si­tät. Sinn­voll wäre auch eine gewis­se finan­zi­el­le Kom­pen­sa­ti­on der Uni­ver­si­tä­ten, die Kur­se ‚expor­tie­ren‘, durch die­je­ni­gen, die sie ‚impor­tie­ren‘.

Da, wo die­se kos­mo­po­li­ti­sche Visi­on nicht hin­haut, aber trotz­dem Prä­senz­kur­se der­zeit durch Online­kur­se ersetzt wer­den, da käme man frei­lich zu einer düs­te­re­ren Dia­gno­se: Wir schot­tern gera­de die Bil­dung gan­zer Stu­den­ten­jahr­gän­ge. Wenn ein Bachelor’s drei Jah­re dau­ert und davon drei Semes­ter lang der Lehr­be­trieb nicht ordent­lich funk­tio­niert, dann lei­det der Wert des Abschlus­ses mas­siv, egal ob man die Noten anpasst oder nicht.

(Bild: Uni­ver­si­täts­be­trieb im Paris des vier­zehn­ten Jahr­hun­derts, Gran­des Chro­ni­ques de France.)

3 Gedanken zu „Fern­stu­di­um für alle?“

  1. Vol­le Zustim­mung und ich fürch­te, die düs­te­re Pro­gno­se passt. Das­sel­be Sze­na­rio lässt sich cum gra­no salis auf die Schu­len anwen­den, deren typi­sche Kund­schaft noch kei­nes­wegs so gereift ist, wie man das von Stu­den­ten erwar­ten möchte.
    Selbst der ein­zi­ge(!) Vor­teil einer Fern­un­ter­richt, näm­lich die Sor­tie­rung nach eigen­in­itia­ti­ver Leis­tungs­be­reit­schaft, wird durch die Nach­tei­le voll­di­gi­ta­len Ler­nens wie­der nivelliert.
    Die beson­ders in Deutsch­land für den Bil­dungs­er­folg wich­ti­gen sozia­len Her­kunfts­be­din­gun­gen wer­den wie­der in den Vor­der­grund rücken.

    1. Bei der Schu­le scheint mir durch die gerin­ge­re Spe­zia­li­sie­rung des Ange­bots die Dyna­mik etwas anders. Für mich per­sön­lich jeden­falls fin­de ich sie im Rück­blick nicht son­der­lich pro­duk­tiv. Es scheint mir durch­aus mög­lich, dass ein nicht uner­heb­li­cher Teil der Schü­ler mit den rich­ti­gen Eltern und Freun­den und der rich­ti­gen Moti­va­ti­on daheim mehr lernt, unab­hän­gig vom Tele­un­ter­richt. Bei einem ande­ren Teil der Schü­ler wird das ganz bestimmt nicht der Fall sein. Das wird bei einem Sys­tem, das dar­auf ange­legt ist, dass allen zur glei­chen Zeit das Sel­be ein­ge­bimst wer­den soll, noch lus­tig, wenn die einen bei der Rück­kehr zum Prä­senz­un­ter­richt ein Jahr vor­aus sind und ande­re ein Jahr hinterher.

Kommentare sind geschlossen.