„Nein, sie ver­die­nen es nicht“: Biden legt eine Schip­pe drauf

Joe Biden hat sich dazu hin­rei­ßen las­sen, in einem Inter­view zu erklä­ren, die Wäh­ler ver­dien­ten es nicht, sei­ne Mei­nung zum Stop­fen des Obers­ten Gerichts­hofs zu erfah­ren. Obwohl eine Fort­set­zung bestehen­der Fehl­ent­wick­lun­gen ist dies eine Belei­di­gung der Wäh­ler, als ob er die Wahl absicht­lich ver­lie­ren wollte.

Letz­ten Don­ners­tag berich­te­te ich über die Wei­ge­rung erst Joe Bidens und dann wesent­lich deut­li­cher und auch auf Nach­fra­ge sei­ner Vize­prä­si­den­ten­kan­di­da­tin Kama­la Har­ris, Aus­kunft dar­über zu geben, ob sie vor­hät­ten, den Obers­ten Gerichts­hof zu „stop­fen“, also durch eine Erhö­hung der Zahl der Rich­ter und poli­tisch geneh­me Ernen­nun­gen zu neu­tra­li­sie­ren. Es war unver­meid­lich, dass dazu wei­te­re Nach­fra­gen kämen.

Nun hat Biden eine Schip­pe auf das Bis­he­ri­ge drauf­ge­legt: Er hat sich dazu ver­stie­gen, zu behaup­ten, die Wäh­ler wür­den es „nicht ver­die­nen“, zu erfah­ren, ob er einen min­des­tens sehr dras­ti­schen Schritt, nach Ansicht vie­ler Ame­ri­ka­ner einen Anschlag auf die Ver­fas­sung und die Gewal­ten­tei­lung, plant.

Schon das Äuße­re wirk­te gespenstisch

Das Gan­ze ereig­ne­te sich in einem Inter­view mit einem Lokal­sen­der aus Las Vegas, dem Biden anläss­lich eines Wahl­kampf­auf­tritts ein Inter­view gab. Schon das Äuße­re wirkt gespens­tisch. Biden und sein Inter­view­part­ner Ross DiMat­tei stan­den auf sol­chem Abstand, dass bei­de gleich­zei­tig nur von einer extre­men Weit­win­kel­ein­stel­lung der Kame­ra erfasst wer­den konn­ten, die aus den gera­den Lini­en der Wän­de und Fens­ter Kur­ven wie im Spie­gel­haus auf dem Jahr­markt macht. Eine Abstands­mar­kie­rung auf dem Boden setz­te dem Inter­view­er eine kla­re Gren­ze, wie nahe er sich annä­hern durf­te. Und alle tra­gen Mas­ken, in die sie hin­ein­nu­schel­ten. Bei allem Ver­ständ­nis für Bidens Gesund­heit, das wirkt wie ein Schau­spiel mit dem ange­neh­men Neben­ef­fekt, das Gesicht des Kan­di­da­ten, der nicht reden will, zu verdecken.

Beim Inhalt aber ging es rich­tig in die Geis­ter­bahn. Ich gebe ihn in mei­ner Über­set­zung wieder:

DiMat­tei: Sir, ich muss sie über das Stop­fen der Gerich­te fra­gen, und ich weiß, dass…

Biden: Sicher!

DiMat­tei: …Sie ges­tern gesagt haben, dass Sie die Fra­ge nicht bis nach den Wah­len beant­wor­ten wer­den. Aber das ist die Fra­ge Num­mer Eins, die Zuschau­er mir in den ver­gan­ge­nen paar Tagen gestellt haben.

Biden: Nun, Sie wur­den von den Zuschau­ern gefragt, die ver­mut­lich Repu­bli­ka­ner sind, die nicht wol­len, dass ich wei­ter­hin dar­über rede, was sie jetzt mir dem Gericht machen.

DiMat­tei: Nun, Sir, ver­die­nen es die Wäh­ler nicht, zu wissen…

Biden: Nein, sie ver­die­nen es nicht.[!!] Ich wer­de nicht sein [Trumps] Spiel spie­len. Er wür­de es lie­ben, wenn ich dar­über reden wür­de. Ich habe bereits etwas zum Stop­fen von Gerich­ten gesagt. Er wür­de es lie­ben, wenn das die Dis­kus­si­on wäre, anstatt das, was er jetzt tut. Er ist dabei, er ist dabei eine Ernen­nung zu machen, mit­ten in einer Wahl, das ers­te Mal, dass das je getan wur­de. Das ers­te Mal in der Geschich­te, dass das je getan wur­de, zum Ersten.

Und, zum Zwei­ten, er wird her­ge­hen und die Kran­ken­ver­si­che­rung weg­rei­ßen. Die Kran­ken­ver­si­che­rung. Zwan­zig Mil­lio­nen Leu­te ver­lie­ren ihre Kran­ken­ver­si­che­rung. Hun­dert, über hun­dert Mil­lio­nen Men­schen wer­den ihren Ver­si­che­rungs­schutz für Vor­er­kran­kun­gen ver­lie­ren. Das gan­ze Ding weg­wi­schen. Und schon jetzt haben wegen sei­ner Feh­ler im Umgang mit Covid zehn Mil­lio­nen Men­schen ihre pri­va­te Ver­si­che­rung ver­lo­ren. Das ist der Fokus. 

Mei­ne Bit­te an die Wäh­ler ist, gehen Sie und wäh­len, wäh­len, wäh­len Sie! Stim­men Sie für einen Sena­tor und stim­men Sie für den Prä­si­den­ten. So funk­tio­niert es. Sie kön­nen bestim­men, wen Sie im Gericht wol­len, wer vor­schla­gen und wer bestä­ti­gen darf. Das ist das The­ma. Das ist jetzt das The­ma. Und es ist ein wenig wie, den­ken Sie dar­über nach: Er will nie dar­über reden. Er will immer das The­ma wech­seln. Er ist so ein Betrüg…, er ist so ein inter­es­san­ter Typ, dass er, was auch immer er tut, den Blick vom Ball ablen­ken will. Das The­ma wech­seln. Ich wer­de sein Spiel nicht mitspielen.

Inter­view Ross DiMat­tei mit Joe Biden, 9. Okto­ber 2020, KNTV

Wäh­ler­ver­ach­tung ist kein Erfolgsrezept

Zur­zeit ist Biden der Favo­rit auf den Wett­märk­ten, wie es auch schon sei­ne Kan­di­da­ten­vor­gän­ge­rin Hil­la­ry Clin­ton vor vier Jah­ren war. Sie war damals die zwei­tun­be­lieb­tes­te Kan­di­da­tin seit Beginn der Mei­nungs­um­fra­gen, hin­ter Donald Trump, dem unbe­lieb­tes­ten Kan­di­da­ten. Wie schon damals bei sei­ner Vor­gän­ge­rin Clin­ton könn­te man den Ein­druck haben, dass Joe Biden sich nach­ge­ra­de bemüht, die Wahl zu ver­lie­ren, mit einer Mischung aus Ver­ach­tung der Wäh­ler und furcht­erre­gen­der Programmatik.

Kein Wäh­ler, egal wie er zu den ver­han­del­ten The­men steht, fin­det es gut, wenn ihm gesagt wird, dass er nicht „ver­die­ne“, zu erfah­ren, wel­che dras­ti­schen Schrit­te ein Kan­di­dat plant oder nicht plant. Wäh­ler­ver­ach­tung, die Vor­stel­lung, dass die Wäh­ler nicht reif genug sei­en, etwas sel­ber zu beur­tei­len, und ihre The­men vor­ge­ge­ben bekom­men müss­ten, ist kein Erfolgsrezept.

Noch mehr dane­ben ist die Unter­stel­lung, dass jeder Zuschau­er, der die Fra­ge nach der Zukunft des Obers­ten Gerichts­ho­fes stellt, des­we­gen ein Repu­bli­ka­ner sei, der dazu noch die Fra­ge aus wahl­tak­ti­schen Moti­ven und nicht aus ech­ter Sor­ge stel­le. Das kann man eigent­lich nur so ver­ste­hen, dass jeder, der sich Sor­gen um die Zukunft des Gerichts­hofs und der Gewal­ten­tei­lung macht, bes­ser Repu­bli­ka­ner wäh­len soll­te. Inso­fern scheint sich Biden mit der glei­chen Aus­sa­ge von Mike Pence bei der Debat­te der Kan­di­da­ten für das Vize­prä­si­den­ten­amt sogar einig zu sein.

Der Teu­fel an der Wand ist ein Zerrbild

Schließ­lich aber gibt das The­ma, auf das Biden ablen­ken woll­te, den Blick dar­auf frei, wie es wirk­lich in sei­ner Par­tei denkt. Er sagt nicht direkt, was er mit dem Gerichts­hof vor­ha­be, aber er nimmt ein The­ma, das mög­li­cher­wei­se vor den Gerichts­hof kom­men wird, die Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit von Oba­mac­a­re, und droht mit den üblen Kon­se­quen­zen, wenn die­ser Fall zuun­guns­ten der Sicht der Demo­kra­ten ent­schie­den würde.

Der Teu­fel, den er dabei an die Wand malt, ist natür­lich ein Zerr­bild: Wer eine Kran­ken­ver­si­che­rung hat, der wür­de sie nicht des­we­gen ver­lie­ren, weil der Kon­tra­hie­rungs­zwang für Ver­si­che­run­gen bei Ver­si­che­rungs­neh­mern mit Vor­er­kran­kun­gen weg­fal­len wür­de, auch wenn es schwie­ri­ger wer­den könn­te, die Ver­si­che­rung und den Arbeit­ge­ber zu wech­seln. Wenn eine sol­che Rege­lung nicht unter die Gesetz­ge­bungs­kom­pe­tenz des Bun­des fal­len wür­de, dann wür­den sicher auch min­des­tens man­che Bun­des­staa­ten sie auf ihrer Ebe­ne ein­füh­ren, mit deut­lich grö­ße­ren ver­fas­sungs­recht­li­chen Frei­räu­men. Jeden­falls aber scheint Biden der Ansicht zu sein, dass uner­wünsch­te Urtei­le des Obers­ten Gerichts­hofs mit dras­ti­schen Mit­teln, zur Not auch mit einem Angriff auf die Unab­hän­gig­keit des Gerichts, ver­hin­dert wer­den müssten.

Die Selbst­po­li­ti­sie­rung des Gerichts­hofs durch Roe v. Wade

Hin­ter all dem steht unaus­ge­spro­chen natür­lich ein ande­rer Kom­plex von Urtei­len, den Biden nicht expli­zit erwähnt hat, der aber bei sei­nem Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter nicht weg­zu­den­ken ist: Die Erfin­dung eines immer unbe­schränk­te­ren Rechts auf Abtrei­bung durch den Obers­ten Gerichts­hof. Bis zur Ent­schei­dung Roe v. Wade 1973 war das Sache der Ein­zel­staa­ten. In Roe wur­de das Recht auf Abtrei­bung zunächst nur im ers­ten Schwan­ger­schafts­drit­tel unbe­schränkt gefun­den, wäh­rend jeden­falls im letz­ten Schwan­ger­schafts­drit­tel ein öffent­li­ches Inter­es­se am Leben des Kin­des bestehen kön­ne. Das hat sich dann wei­ter radi­ka­li­siert, bis zu gespens­ti­schen Ver­hand­lun­gen der Fra­ge, ob bestimm­te Metho­den der Abtrei­bung, bei denen ein weit ent­wi­ckel­ter Fötus aus der Gebär­mut­ter gezo­gen und im Geburts­ka­nal zer­legt wird, vom Staat regle­men­tiert oder ver­bo­ten wer­den dürf­ten. Die eine Sei­te betrach­tet sol­che Pro­ze­du­ren als Kinds­mord, die ande­re als Kron­ju­wel des Femi­nis­mus und der ‚repro­duk­ti­ven Gesund­heit‘, wie das genannt wird.

Nun schweigt, wie ein kur­zer Blick in den Text belegt, die ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung samt Zusät­zen zu die­ser Fra­ge, beant­wor­tet ins­be­son­de­re nicht die Fra­ge, ab wel­chem Moment aus einem von der Rechts­ord­nung nicht oder kaum geschütz­ten Embryo oder Fötus ein schüt­zen­wer­tes Leben wür­de. Damit, dass er trotz offen­sicht­lich feh­len­der kla­rer Grund­la­ge und mit in ver­schie­de­nen Ent­schei­dun­gen schwan­ken­den Begrün­dun­gen die­se Fra­ge ent­schei­den woll­te, hat sich der Gerichts­hof seit 1973 in einer Wei­se poli­ti­siert und damit dele­gi­ti­miert, die er sel­ber wohl nicht vor­aus­ge­se­hen hat. Kein ande­res ver­fas­sungs­recht­li­ches The­men­feld ist so emo­tio­nal auf­ge­la­den, kei­ne Fra­ge wird über einen Kan­di­da­ten für ein Rich­ter­amt so selbst­ver­ständ­lich dis­ku­tiert wie die­je­ni­ge, wie er wohl einen neu­en Fall zum Abtrei­bungs­recht ent­schei­den würde.

Eine fol­ge­rich­ti­ge Fort­set­zung von Fehlentwicklungen

Es wäre daher – egal wie sehr das von der radi­ka­len Lin­ken als Kata­stro­phe ange­se­hen wird – ver­mut­lich kei­ne schlech­te Ent­wick­lung, wenn die Fra­ge der Abtrei­bung jeden­falls teil­wei­se in den demo­kra­ti­schen Pro­zess zurück­ge­ge­ben wür­de. Die meis­ten Ame­ri­ka­ner sind kei­ne fun­da­men­ta­lis­ti­schen Chris­ten, die schon Ver­hü­tungs­mit­tel für Tötung mensch­li­chen Lebens hal­ten. Sie sind aber auch kei­ne Radi­kal­fe­mi­nis­ten, die eine ‚Abtrei­bung‘ eines lebens­fä­hi­gen Kin­des im Geburts­ka­nal für eine Fei­er­stun­de der Befrei­ung vom Patri­ar­chat hal­ten, son­dern füh­len sich von der Vor­stel­lung aus offen­sicht­li­chen Grün­den abge­sto­ßen und an Dr. Men­ge­le erin­nert. Wür­de die Ent­schei­dung wie­der den Staa­ten zurück­ge­ge­ben, dann kämen in vie­len ver­mut­lich Kom­pro­mis­se nicht unähn­lich dem in Deutsch­land her­aus, und dazu noch die Mög­lich­keit wie einst nach Hol­land in einen Nach­bar­staat zu fahren.

Inso­fern ist der Demo­kra­ti­sche Vor­stoß, den Obers­ten Gerichts­hof durch die Ernen­nung einer hin­rei­chen­den Zahl gefü­gi­ger Rich­ter voll­kom­men zum Spiel­ball der Poli­tik zu machen, eine fol­ge­rich­ti­ge Fort­set­zung von Ent­wick­lun­gen, die schon län­ger andau­ern. Wenn der Obers­te Gerichts­hof im Kern poli­ti­sche, nicht juris­ti­sche Ent­schei­dun­gen fällt, dann liegt es nahe, ihn als begeh­rens­wer­tes­tes Beu­te­stück der Poli­tik zu behan­deln. Es sind dies aber offen­sicht­li­che Fehl­ent­wick­lun­gen, an deren Ende nur die voll­kom­me­ne Ent­ker­nung des Gerichts­hofs und damit auch der ame­ri­ka­ni­schen Vari­an­te der Gewal­ten­tei­lung ste­hen könn­te, wie sie seit dem weg­wei­sen­den Urteil Mar­bu­ry v. Madi­son von 1803 eta­bliert ist.

Obwohl von der Stoß­rich­tung her eine Fort­set­zung bestehen­der Fehl­ent­wick­lun­gen, ist die­ser Vor­stoß aber auch ein Zei­chen der Ver­ach­tung für die gewach­se­ne Ver­fas­sungs­ord­nung. Die Wei­ge­rung, über­haupt Aus­kunft über sol­che Plä­ne und ihre Moti­va­ti­on zu geben, ist eine Belei­di­gung der Wäh­ler, und zwar eben nicht nur der kon­ser­va­ti­ven, son­dern auch der gemä­ßig­ten Wech­sel­wäh­ler. Ob die das hono­rie­ren werden?