Letzte Woche gab es in Amerika und in Deutschland zwei parallele Entscheidungen, die darauf abzielen, den Tatbestand des Mordes auf Fälle zu erweitern, die von der bisherigen Rechtsprechung nicht als solche erfasst wurden. In Atlanta wurde der Polizeibeamte Garrett Rolfe, der bei einer verunglückten Festnahme Rayshard Brooks erschossen hat, unter der Regel des ‚felony murder‘ wegen der höchsten Stufe des Mordes, die mit lebenslänglich oder gar der Todesstrafe bedroht ist, angeklagt. In Deutschland hat der Bundesgerichtshof das Mordurteil gegen einen der ‚Ku’damm-Raser‘ aufrechterhalten und gegen den anderen aufgehoben. Sowohl die Anklage aus Atlanta als auch die BGH-Entscheidung scheinen mir falsch.
Für Reue ist es zu spät
Es gibt im Rechtskreis des common law die Regel des felony murder, nach der jemand, der als Täter oder Mittäter eines Verbrechens schuldig ist, automatisch auch des Mordes schuldig ist, wenn durch dieses Verbrechen jemand zu Tode kommt. Das ist unabhängig davon, ob der Betreffende den Tod gebilligt oder irgendwie an ihm mitgewirkt hat, und sogar davon, ob er aktiv versucht hat, die Tötung zu verhindern. Für Reue ist es zu spät, denn das Ergebnis des Todes wird der Willensentscheidung zum ursprünglichen Verbrechen zugerechnet. Klassisch wären beispielsweise bei einem Banküberfall, bei dem einer der Räuber die Nerven verliert und jemanden tötet, auch alle Mittäter, egal ob überhaupt in der Bank anwesend, des Mordes schuldig. Das gälte selbst dann, wenn beispielsweise einer der Mittäter dem Mörder die Waffe wegnehmen wollte. Die Strafe entspricht dabei derjenigen für die höchste Stufe eines Tötungsdelikts, entsprechend dem deutschen Mord.
Diese sehr harte Regel hat allerdings auch ihre Grenzen. Einerseits muss das begangene Verbrechen dergestalt gewesen sein, dass plausibel absehbar war, dass es zum Tode einer Person führen könnte. Wer beispielsweise eine betrügerische Steuererklärung zur Post fährt und dabei in einen tödlichen Unfall verwickelt wird, wird dadurch nicht zum Mörder, denn es war nicht absehbar, dass das falsche Ausfüllen der Steuererklärung in einem Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen stehen würde. Weiterhin ist unter der merger doctrine die Regel des felony murder auch dann nicht anwendbar, wenn das unterliegende Verbrechen eines ist, das bereits im Vorwurf des Mordes enthalten ist, also Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge usw. Andernfalls wären letztere Tatbestände mit ihren im Vergleich zum übelsten Mord geringeren Strafandrohung ja gar nicht mehr realisierbar, denn sie würden automatisch zur höchsten Stufe des Mordes werden.
Der ganz große Hammer der Giftspritze
Letztere Regel scheint Staatsanwalt Paul Howard außer Acht gelassen zu haben, als er sich entschied, Garrett Rolfe wegen felony murder anzuklagen. In dem Haftbefehl wird Rolfe vorgeworfen, während des Delikts der schweren Körperverletzung unter der verschärfenden Qualifikation der Benutzung einer tödlichen Waffe den Rayshard Brooks getötet zu haben, und daraus soll dann felony murder werden. Das ist natürlich Unsinn. Wenn eine zum Tod führende Körperverletzung automatisch Mord des höchsten Grades wäre, dann wären mit geringerer Strafe versehene Tötungsdelikte wie Totschlag abgeschafft, weil eine Köperverletzung notwendiger Bestandteil eines Totschlags ist. Es dürfte unbestritten sein, dass die ansonsten für den Mord der höchsten Stufe in Georgia verlangten Mordmerkmale wie vorherige Planung in diesem Fall nicht gegeben sind, und sie sollen offenbar auch nicht angeklagt werden. Selbst in der übelsten Interpretation von Rolfes Verhalten hätte er sich spontan und aus verständlichen Beweggründen entschieden zu töten, denn Brooks schoss direkt vorher mit einem Taser auf ihn. Ein in der Hitze des Moments, ungeplant und auf schwere Provokation begangenes Tötungsdelikt wird aber vom Gesetzgeber milder behandelt als Mord, aus guten Gründen.
Die Anklage gegen Rolfe wegen felony murder scheint mir damit unhaltbar. Auch wenn alle Beteiligten wohl wissen, dass die Todesstrafe in diesem Fall nur sehr theoretisch ist, ist es offensichtlich eine enorme Belastung für einen Angeklagten, ihn schikanös wegen eines mit dem Tod bedrohten Verbrechens anzuklagen.
Staatsanwalt Howard steht dieses Jahr zur Wiederwahl an und hat mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen. Ein Schelm wer Böses dabei denkt, wenn er jetzt in einem spektakulären Fall den ganz großen Hammer der Giftspritze zumindest vorzeigt, dazu noch ohne wie eigentlich üblich die Ergebnisse einer laufenden Untersuchung abzuwarten oder auch nur die Ermittler zu konsultieren. Gleichzeitig geht er, sollte er auch vor Gericht eine alles-oder-nichts-Strategie verfolgen, das Risiko eines unnötigen Freispruchs für Rolfe ein, dem dann vermutlich die nächste Runde gewalttätiger Ausschreitungen mitsamt Plünderungen und Brandstiftungen, vielleicht auch Toten, folgen wird. Die letzte sah so aus:
Mittlerweile sind viele Polizisten in Atlanta aus Ärger über die maßlose Anklage ihres Kollegen in eine Art inoffiziellen Streik getreten.
‚Raser‘: Selbst nach der Gesetzesverschärfung ein geringeres Strafmaß als für Mord
Während dieser Ereignisse in Atlanta hat der Bundesgerichtshof die Revisionen der beiden ‚Ku’damm-Raser‘ entschieden, die 2016 ein Rennen auf den Straßen Berlins veranstaltet haben, bei dem ein Unbeteiligter zu Tode kam. Beide wurden wegen Mordes verurteilt. Salomonisch hat das Gericht die Verurteilung des Angeklagten, dessen Wagen mit dem des Opfers zusammenstieß, aufrechterhalten, und diejenige des anderen Angeklagten kassiert und zur Neuverhandlung geschickt.
Bezüglich des ersten Angeklagten heiße es in der Pressemitteilung (das schriftliche Urteil steht noch aus):
Das Landgericht hat maßgeblich aus der außergewöhnlichen Gefährlichkeit des Fahrverhaltens des Angeklagten und der damit einhergehenden und von ihm erkannten Unfallträchtigkeit auf die billigende Inkaufnahme eines schweren Verkehrsunfalls mit tödlichen Folgen für den Unfallgegner und damit auf ein bedingt vorsätzliches Handeln dieses Angeklagten geschlossen. […]
Es hat tragfähig begründet, dass der Angeklagte diesen Unfallhergang als möglich erkannte, die hiervon ausgehende Gefahr für sich selbst aber als gering einschätzte und hinnahm. […]
Zwar weist die Beweiswürdigung des Landgerichts zur subjektiven Seite des Mordmerkmals der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln durchgreifende Rechtsfehler auf. Da das Landgericht die Mordmerkmale der Heimtücke und der Tötung aus niedrigen Beweggründen rechtsfehlerfrei bejaht hat, wirkt sich dies auf den Strafausspruch aber nicht aus.
Bundesgerichtshof, Mitteilung der Pressestelle, Nr. 78/2020, ‚Bundesgerichtshof bestätigt im „Berliner Raser-Fall“ im zweiten Rechtsgang die Verurteilung des den Unfall verursachenden Angeklagten wegen Mordes und hebt das Urteil gegen den weiteren, als Mittäter verurteilten Angeklagten auf‘
Einerseits existiert in Deutschland gar keine felony murder Regel, wird aber hier in gewisser Weise zur Anwendung gebracht. Andererseits würde sich selbst wenn es in Deutschland eine solche Regel gäbe das Problem der merger doctrine stellen.
§315c StGB, Gefährdung des Straßenverkehrs, stellt die Gefährdung von Leib und Leben anderer durch rücksichtslose Fahrweise unter bis zu fünf Jahre Strafe. Der nach der Tat eingeführte §315d, Verbotene Kraftfahrzeugrennen, bedroht die Teilname an solchen mit bis zu zehn Jahren, wenn dadurch jemand zu Tode kommt. Der Gesetzgeber hat also selbst nach dieser Tat, auf die er reagieren wollte, ein geringeres Strafmaß vorgesehen als für Mord. Nach der lex mitior Regel wäre wohl diese nach der Tat eingeführte Regel, die für das gleiche Verhalten eine Verurteilung wegen Mordes auszuschließen scheint, auch für den behandelten Altfall anzuwenden, selbst wenn man ihn zum Tatzeitpunkt als Mord ansehen hätte können.
Was wäre eigentlich gewesen, wenn die Schnellfahrer statt Autos ein Atomkraftwerk havariert hätten?
Um die Absurdität der Verurteilung wegen Mordes wegen eines Rennens mit hoher Gefährdung Unbeteiligter, aber ohne Tötungsabsicht, zu illustrieren, können wir eine andere der gemeingefährlichen Straftaten aus diesem Teil des Strafgesetzbuches bemühen, die im Gegensatz zur Gefährdung des Straßenverkehrs eine Strafverschärfung für den Tod von Menschen beinhaltet. Was wäre eigentlich gewesen, wenn die Schnellfahrer statt Autos ein Atomkraftwerk havariert hätten?
§ 307 Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie
§307 StGB
[…]
(2) Wer durch Freisetzen von Kernenergie eine Explosion herbeiführt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert fahrlässig gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(3) Verursacht der Täter durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen, so ist die Strafe […] in den Fällen des Absatzes 2 Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.
Wenn also jemand als Reaktorfahrer Dienst tut, und dabei „wenigstens leichtfertig“ den Reaktor in die Luft jagt und damit einen anderen Menschen tötet, bekommt er nicht unter fünf Jahren, also immer noch eine mildere Strafandrohung als bei Mord. Das „mindestens leichtfertig“ scheint die Risikobereitschaft der beiden Rennfahrer zu beschreiben. Es erscheint jetzt offensichtlich absurd, dass sie mit einer milderen Strafe zu rechnen hätten, wenn sie statt ihrer leistungsstarken Autos bei der Demonstration ihrer Männlichkeit gleich ein Atomkraftwerk havariert hätten. Das deutet mir sehr darauf hin, dass eine Verurteilung wegen Mordes für den leichtfertigen Umgang mit gefährlichen Anlagen, die leicht zum Tod eines Menschen führen können, vom Gesetzgeber nicht vorgesehen war. Ein Privileg für Reaktorfahrer gegenüber Autofahrern wollte er mit dieser Vorschrift wohl kaum schaffen.
Eine Art neuartiger felony murder Regel im deutschen Strafrecht
An der Unangemessenheit der Verurteilung wegen Mordes ändert es auch nichts, dass die Höchststrafe des §315c von fünf Jahren für den Fall unangemessen niedrig erscheinen mag, allerdings derjenigen für fahrlässige Tötung schon entspricht. Das ist das Problem des Gesetzgebers, der dann ja in der Tat auch einen neuen Straftatbestand mit höherer Strafe geschaffen hat.
Wenn der Bundesgerichtshof jetzt in einem Verhalten, das zwar kriminell riskant, aber eindeutig nicht auf den Tod eines Unbeteiligten gerichtet war, einen Mord erkennen will, dann scheint er mir in der Tat eine Art neuartiger felony murder Regel ins deutsche Strafrecht einzuführen, die den bedingten Vorsatz schon in der Inkaufnahme eines nur möglichen, aber für unwahrscheinlich gehaltenen und, bezogen auf die einzelne Fahrt, wohl auch objektiv unwahrscheinlichen Risikos sieht.
Da wird es dann aber schwierig: Jeder, der überhaupt nur ein Auto anmeldet, sieht spätestens an den Kosten der Haftpflichtversicherung, dass Autos in der Tat selbst bei vorsichtiger Fahrweise zum Tod anderer führen können. Wenn das aber noch nicht als Eventualvorsatz ausreicht, dann wird der Eventualvorsatz doch daran anknüpfen, dass mit dem Rennen bereits eine andere Straftat verwirklicht wird, und die Zuschreibung des Vorsatzes zu dieser Tat als Vorsatz zum tödlichen Ergebnis wäre dann genau die felony murder Regel.
Die Amerikaner sind mit dieser Regel bisweilen eher unglücklich
Wenn man in Deutschland aber aus Entsetzen über das Ergebnis eines besonders rücksichtslosen Straßenrennens die felony murder Regel durch die Hintertür einführt anstatt es für neue Fälle bei der Strafverschärfung des Gesetzgebers über den neuen §315d zu belassen, dann sollte man sich schon fragen, ob das sinnvoll ist. Die Amerikaner sind mit dieser Regel bisweilen eher unglücklich und schränken sie ein, beispielsweise durch ihre Begrenzung auf speziell aufgelistete Verbrechen, die mit besonderer Wahrscheinlichkeit den Tod eines Menschen zur Folge haben können. England hat sie ganz abgeschafft.
Hintergrund dieser Zweifel sind spektakuläre Fälle, in denen die felony murder Regel zu hart erscheint. Ein Beispiel ist der von fünf jungen Männern in Indiana, die in das bewohnte Haus eines Nachbarn eingebrochen sind, um da zu stehlen. Einer davon wurde vom Bewohner erschossen, und dann waren es nur noch vier, die als die ‚Elkhart Four‘ bekannt wurden. Die wurden dann nicht nur wegen Einbruchs sondern auch wegen Mordes verurteilt, denn aus dem Vorsatz zum Einbruch, dessen mögliche Konsequenzen offensichtlich sind, wurde durch die felony murder Regel auch der Vorsatz zum Tod ihres Kameraden. Im Rahmen der Berufungsverfahren wurden erst die langjährigen Haftstrafen verkürzt und dann der Mordvorwurf ganz fallengelassen, weil bei diesem Einbruch, bei dem Gewalt gegen Menschen nicht vorgesehen war, die Verbindung zwischen Vorsatz und Ergebnis zu schwach war.
Wollen wir uns wirklich diese Probleme der felony murder Regel einhandeln, sowohl in ihrer korrekten Anwendung als auch erst recht in Fällen wie in Atlanta, wo sie zum reinen Instrument der Schikane verkommt, um einer wütenden Öffentlichkeit eine Anklage wegen Mordes präsentieren zu können?