Der Kin­der­schän­der, der Mit­tel­stu­fen­schwarm und die Dorfsau

Die CDU will in sel­te­nem Ein­ver­neh­men mit der AfD Kin­des­miss­brauch in allen Fäl­len als Ver­bre­chen bestra­fen. Unter die von §176 StGB erfass­ten Tat­be­stän­de fal­len aber die unter­schied­lichs­ten Sach­ver­hal­te, selbst ein­ver­nehm­li­ches Knut­schen zwi­schen prak­tisch gleich­alt­ri­gen Klas­sen­ka­me­ra­den. Auf die schwe­ren Fäl­le dürf­te eine Ver­schär­fung der Min­dest­stra­fe für die leich­tes­ten Fäl­le kei­ne nen­nens­wer­te Abschre­ckungs­wir­kung haben. Die CDU hat ihren inne­ren Rechts­po­pu­lis­ten mit einem eher bil­li­gen The­ma wiederentdeckt.

Die CDU hat eine alte Sau im Stall gefun­den, die sie spek­ta­ku­lär durchs Dorf trei­ben kann, wäh­rend ihr die Situa­ti­on sonst eher ent­glei­tet und sie von der Aus­lands­pres­se als „ohne Kom­pass“ und „inhalt­lich rui­niert“ bilan­ziert wird. Sogar eine Sau in der Bedeu­tung gleich zwei ver­schie­de­ner Meta­phern hat sie gefun­den, näm­lich den Kin­der­schän­der. Anläss­lich des bru­ta­len Miss­brauchs­falls von Müns­ter for­dert die CDU „dras­ti­sche Stra­fen“: „Kin­des­miss­brauch müs­se in jedem Fall als Ver­bre­chen und nicht mehr nur als Ver­ge­hen geahn­det wer­den.“ Dar­in fin­det sie sich in sel­te­ner Einig­keit mit der AfD, und auch die Bild stimmt zu („Kein Ver­bre­chen! Minis­te­rin Lam­brecht: Kin­des­miss­brauch ist Ver­ge­hen“), das Twit­ter-Uni­ver­sum ebenso.

Nun lohnt sich aller­dings bei der Beur­tei­lung straf­recht­li­cher Nor­men gele­gent­lich ein Blick ins Gesetz. §176 StGB besagt:

§ 176 Sexu­el­ler Miß­brauch von Kindern

(1) Wer sexu­el­le Hand­lun­gen an einer Per­son unter vier­zehn Jah­ren (Kind) vor­nimmt oder an sich von dem Kind vor­neh­men läßt, wird mit Frei­heits­stra­fe von sechs Mona­ten bis zu zehn Jah­ren bestraft.

(2) Eben­so wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexu­el­le Hand­lun­gen an einem Drit­ten vor­nimmt oder von einem Drit­ten an sich vor­neh­men läßt.

(3) In beson­ders schwe­ren Fäl­len ist auf Frei­heits­stra­fe nicht unter einem Jahr zu erkennen.

(4) Mit Frei­heits­stra­fe von drei Mona­ten bis zu fünf Jah­ren wird bestraft, wer

1. sexu­el­le Hand­lun­gen vor einem Kind vornimmt,

2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexu­el­le Hand­lun­gen vor­nimmt, soweit die Tat nicht nach Absatz 1 oder Absatz 2 mit Stra­fe bedroht ist,

3. auf ein Kind mit­tels Schrif­ten (§ 11 Absatz 3) oder mit­tels Infor­ma­ti­ons- oder Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie ein­wirkt, um

a) das Kind zu sexu­el­len Hand­lun­gen zu brin­gen, die es an oder vor dem Täter oder einer drit­ten Per­son vor­neh­men oder von dem Täter oder einer drit­ten Per­son an sich vor­neh­men las­sen soll, oder

b) eine Tat nach § 184b [Kin­der­por­no­gra­phie] Absatz 1 Num­mer 3 oder nach § 184b Absatz 3 zu bege­hen, oder

4. auf ein Kind durch Vor­zei­gen por­no­gra­phi­scher Abbil­dun­gen oder Dar­stel­lun­gen, durch Abspie­len von Ton­trä­gern por­no­gra­phi­schen Inhalts, durch Zugäng­lich­ma­chen por­no­gra­phi­scher Inhal­te mit­tels Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie oder durch ent­spre­chen­de Reden einwirkt.

(5) Mit Frei­heits­stra­fe von drei Mona­ten bis zu fünf Jah­ren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absät­zen 1 bis 4 anbie­tet oder nach­zu­wei­sen ver­spricht oder wer sich mit einem ande­ren zu einer sol­chen Tat verabredet.

(6) Der Ver­such ist straf­bar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Num­mer 4 und Absatz 5. Bei Taten nach Absatz 4 Num­mer 3 ist der Ver­such nur in den Fäl­len straf­bar, in denen eine Voll­endung der Tat allein dar­an schei­tert, dass der Täter irrig annimmt, sein Ein­wir­ken bezie­he sich auf ein Kind.

Unter die­se Vor­schrif­ten fal­len also Sach­ver­hal­te die unter­schied­li­cher nicht sein könn­ten. Einer­seits fal­len dar­un­ter fünf­zig­jäh­ri­ge Män­ner, die orga­ni­siert und kom­mer­zi­ell Kin­der im Grund­schul­al­ter zum sexu­el­len Ver­kehr zwin­gen. Ande­rer­seits fal­len dar­un­ter auch Per­so­nen, die auch nur in der irri­gen (wohl nicht in allen Fäl­len unbe­ab­sich­tigt her­bei­ge­führ­ten) Annah­me, mit einem Drei­zehn­jäh­ri­gen zu reden, anzüg­li­che Bemer­kun­gen machen, eine Art lex Tat­ort Inter­net. Beim „Abspie­len von Ton­trä­gern por­no­gra­phi­schen Inhalts“ könn­te man auch an eini­ge Wer­ke der Musik den­ken, von Rap bis Mozart.

Wegen Küs­sens und Fum­melns mit einer Klas­sen­ka­me­ra­din verurteilt

Ins­be­son­de­re fällt aber auch ein Sach­ver­halt dar­un­ter, der in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on wohl eher nicht wahr­ge­nom­men wird, obwohl er ver­mut­lich die bei wei­tem häu­figs­te Rea­li­sie­rung des Tat­be­stands ist: Zwei Klas­sen­ka­me­ra­den sind ein paar Mona­te im Alter aus­ein­an­der, er ist vier­zehn und sie ist drei­zehn, oder umge­kehrt. Die bei­den kom­men sich näher, ‚gehen mit­ein­an­der‘, sind ver­liebt, knut­schen oder betrei­ben viel­leicht, was die Bra­vo als ‚hea­vy pet­ting‘ bezeich­nen wür­de, tau­schen viel­leicht auch ein­deu­ti­ge Text­nach­rich­ten oder Bil­der aus. Rich­tig: die­se völ­lig all­täg­li­che Kon­stel­la­ti­on fällt unter den Tat­be­stand des Kin­des­miss­brauchs nach dem Wort­laut des Gesetzes. 

Nun wird der Leser viel­leicht ein­wen­den, das sei doch so irre, das kön­ne gar nicht sein. Kann es schon. Es wur­de z.B. 2011 ein Vier­zehn­jäh­ri­ger, der eine drei­zehn­jäh­ri­ge Schul­ka­me­ra­din jeden­falls aus sei­ner Sicht ein­ver­nehm­lich – was aber für die Straf­bar­keit uner­heb­lich ist! – auf den Hals geküsst und ihr bedeck­tes Geschlechts­teil ange­fasst hat, vom Amts­ge­richt Arn­stadt wegen Kin­des­miss­brauchs ver­ur­teilt und zu sech­zig Arbeits­stun­den ver­ur­teilt. Die Sache erlang­te eine gewis­se Bekannt­heit, weil sie bis zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ging, nach­dem ihm auch noch eine DNS-Pro­be als Sexu­al­straf­tä­ter ent­nom­men und archi­viert wer­den soll­te. (2 BvR 2392/12)

Dadurch, dass es sich um ein Offi­zi­al­de­likt han­delt, sind im Prin­zip auch den Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den die Hän­de gebun­den wenn sie von einem sol­chen Sach­ver­halt erfah­ren, auch wenn in der Pra­xis ver­mut­lich in der rie­si­gen Mehr­zahl sol­cher Fäl­le weg­ge­schaut wird, mit unter­schied­li­chen Begrün­dun­gen oder infor­mell. Der Miss­brauch bei die­ser Sache ging wohl nach dem Dafür­hal­ten der meis­ten Men­schen nicht von dem Vier­zehn­jäh­ri­gen und auch nicht von der Drei­zehn­jäh­ri­gen aus, son­dern vom Rechts­sys­tem. Man muss sich ein­mal die Situa­ti­on vor­stel­len, mit vier­zehn Jah­ren wegen ein­ver­nehm­li­chen Knut­schens vor Gericht gezerrt und als Kin­der­schän­der abge­ur­teilt zu wer­den. Selbst wenn es in die­sem Fall irgend­wel­che in den öffent­li­chen Akten nicht zugäng­li­chen Fak­to­ren gege­ben haben soll­te, die das gan­ze in einem schlech­te­ren Licht dar­stel­len wür­den: Dar­auf kommt es gar nicht an. Das Küs­sen und Fum­meln ist auch dann staf­bar, wenn die bei­den prak­tisch gleich­alt­ri­gen Betei­lig­ten für ihr Alter reif, selbst­be­stimmt und bis über bei­de Ohren ver­liebt sind.

Je mehr Fäl­le man erfas­sen will, des­to mehr Fäl­le mit gerin­gem oder strit­ti­gem Unrecht gibt es

Nun kann man den Sach­ver­halt natür­lich abän­dern und ihn etwas anrü­chi­ger machen, als wenn Vier­zehn- und Drei­zehn­jäh­ri­ge knut­schen. Was, wenn einer der Betei­lig­ten nicht vier­zehn son­dern sech­zehn ist? Was, wenn es nicht beim Knut­schen bleibt? Unter­schied­li­che Men­schen mögen da die Gren­ze, wo Inter­ven­ti­on ange­mes­sen ist, unter­schied­lich zie­hen, aber klar ist doch, dass es sich nicht um einen har­ten Über­gang von ein­ver­nehm­li­cher Lie­be zu bru­tals­tem Miss­brauch han­delt. Gera­de weil man die­se Linie nicht zie­hen kann, son­dern der Sach­ver­halt sich im rich­ti­gen Leben auf einem Kon­ti­nu­um ansie­delt, wäre eigent­lich auch ein Kon­ti­nu­um der Straf­bar­keit wünschenswert.

Der Wunsch, die Min­dest­stra­fe zu erhö­hen, steht auch im Wider­spruch mit der immer wei­te­ren Aus­deh­nung der straf­ba­ren Fäl­le. Wenn man mög­lichst vie­le Fäl­le erfas­sen will, damit jemand nicht durch die Lap­pen geht, weil er gegen den Wort­laut der Vor­schrift gar nicht ver­sto­ßen hat, dann führt das auto­ma­tisch dazu, dass es mehr Fäl­le geben wird, bei denen das Unrecht eher strit­tig und gering ist, in denen man bes­ten­falls ein abs­trak­tes Gefähr­dungs­de­likt aber kein Opfer sehen kann, und wo eine Abur­tei­lung als Ver­bre­chen mit min­des­tens einem Jahr grob unan­ge­mes­sen erschiene.

Die CDU hat ihren inne­ren Rechts­po­pu­lis­ten wiederentdeckt

Die­se Über­le­gun­gen schlie­ßen natür­lich nicht aus, dass es Fäl­le geben mag, in denen die Urtei­le der Gerich­te zu mil­de aus­fal­len. In gewis­sem Maß muss man wohl damit leben, aber wenn das ein­reißt und man ihm durch eine Geset­zes­ver­schär­fung ent­ge­gen­wir­ken will, dann muss man doch auch die Fäl­le ange­ben, für wel­che die schär­fe­re Stra­fe ver­hängt wer­den soll, aber noch nicht ver­hängt wird. Das scheint der gegen­wär­ti­gen Dis­kus­si­on zu fehlen.

Die Straf­an­dro­hung für sexu­el­len Miss­brauch von Kin­dern ist mit bis zu zehn Jah­ren im Fall von §176 und Ver­schär­fun­gen bis hin zu lebens­läng­lich in den Fäl­len von §176a und §176b bereits erheb­lich, und es ist bekannt, dass Kin­der­schän­der im Gefäng­nis kei­nen leich­ten Stand haben. Es scheint mir des­halb auch frag­lich, ob eine Ver­schär­fung der Min­dest­stra­fe, die ja vor­wie­gend die leich­te­ren Fäl­le betrifft, eine Abschre­ckungs­wir­kung ins­be­son­de­re in Bezug auf die spek­ta­ku­lärs­ten Fäl­le haben wür­de, an denen sich sol­che Dis­kus­sio­nen ent­zün­den. Wahr­schein­li­cher scheint es mir, dass die ent­spre­chen­de Kli­en­tel ent­we­der kaum abzu­schre­cken ist oder aber sich in Sicher­heit wähnt, ins­be­son­de­re durch Macht­ver­hält­nis­se gegen­über den Opfern und in man­chen Fäl­len viel­leicht auch durch ein­fluss­rei­che Vernetzung.

Die CDU hat ihren inne­ren Rechts­po­pu­lis­ten wie­der­ent­deckt, aber bei einem The­ma, das mir eher bil­lig scheint, eben weil sich eine rie­si­ge Mehr­heit der Gesell­schaft über die abso­lu­te Ver­werf­lich­keit der Taten, an die man beim Wort ‚Kin­des­miss­brauch‘ zuerst denkt, voll­kom­men einig ist. Wenn der in Arn­stadt ver­ur­teil­te Jun­ge statt sech­zig dann hun­dert Arbeits­stun­den oder gar eine Jugend­stra­fe bekom­men hät­te, dann wäre, so den­ke ich, damit nie­man­dem gehol­fen gewesen.