Die Medi­zi­ner behan­deln wie­der den Volkskörper

Rund drei­zehn­hun­dert Men­schen aus dem Umfeld der Medi­zin unter­zeich­ne­ten einen Brief, der die Floyd-Pro­tes­te als gesund­heits­för­dernd, Demons­tra­tio­nen gegen die Coro­na-Maß­nah­men hin­ge­gen als krank­ma­chend beur­teilt. Medi­zin hat mit Macht zu tun. Aus ihrem Miss­brauch ergibt sich ein Ver­trau­ens­ver­lust der Bür­ger. Immer­hin: Man wird sehen, zu wie vie­len Neu­in­fek­tio­nen die Mas­sen­auf­läu­fe und Aus­schrei­tun­gen führen.

Dass wir einen rapi­den Ver­trau­ens­ver­lust der Pres­se, der frü­he­ren ‚vier­ten Gewalt,‘ erle­ben, ist nicht neu. Nicht nur auf die­sem Blog lehrt einen der Ver­gleich des sich immer wei­ter ver­en­gen­den Mei­nungs­kor­ri­dors der Pres­se mit den Fak­ten und mit den Mei­nun­gen von vor nur weni­gen Wochen das Grau­sen. Auch die Wis­sen­schaft erlebt eine sol­che Ver­en­gung. Beson­ders deut­lich wur­de das schon seit eini­ger Zeit an den Kli­ma­wis­sen­schaf­ten, wo Erkennt­nis­in­ter­es­se und Akti­vis­mus nicht immer sau­ber getrennt wur­den. Wenn das jetzt auch noch die Medi­zin betrifft, dann kom­men wir in eine noch gefähr­li­che­re Zone.

In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten wur­de ein von rund drei­zehn­hun­dert Men­schen, die nach eige­ner Dar­stel­lung Medi­zi­ner und Ange­hö­ri­ge des Gesund­heits­we­sen sei­en, unter­zeich­ne­ter offe­ner Brief ver­öf­fent­licht, indem sie die Pro­tes­te, die sich am Tod von Geor­ge Floyd ent­zün­det hat­ten, für medi­zi­nisch dring­li­cher erklä­ren, als ein durch sol­che Mas­sen­auf­läu­fe mög­li­cher­wei­se ver­ur­sach­tes Über­tra­gungs­ri­si­ko von Covid-19. Dar­un­ter sind, den Titeln nach zu urtei­len, 252 Ärz­te, 218 Mas­ters of Public Health, und hun­dert Dok­to­ren der Phi­lo­so­phie im klas­si­schen Sin­ne (also Natur- und Geisteswissenschaftler). 

Ein Pro­blem der Volksgesundheit

„Wei­ße Vor­herr­schaft“, so der Brief, „ist ein Pro­blem der Volks­ge­sund­heit, das vor Covid-19 exis­tier­te und zu Covid-19 bei­trägt. […] Covid-19 unter Schwar­zen [groß­ge­schrie­ben als Eigen­na­me] Men­schen ist noch ein wei­te­rer Aus­druck der wei­ßen Vor­herr­schaft.“ Des­we­gen müss­ten aus medi­zi­ni­scher Sicht die Pro­tes­te unter­stützt wer­den. Sie dürf­ten kei­nes­wegs auf­ge­löst wer­den. Viel­mehr müss­te die Gesund­heit der Teil­neh­mer geschützt wer­den, indem nie­mand ver­haf­tet wür­de, der eine Straf­tat begeht, indem kei­ne Reiz­stof­fe gegen aggres­si­ve Grup­pen ein­ge­setzt wür­den und indem die Poli­zei einen Covid-siche­ren Abstand von Pro­tes­tie­ren­den ein­hal­te. Wenn man sel­ber zur Ver­mei­dung von Gesund­heits­ri­si­ken bei­tra­gen wol­le, dann kön­ne man bei­spiels­wei­se Kau­ti­on für Fest­ge­nom­me­ne stellen.

Der Brief stellt sel­ber den Kon­trast zur vor­he­ri­gen Demons­tra­tio­nen gegen die Coro­na-Maß­nah­men dar, „ins­be­son­de­re gegen Anord­nun­gen, zu Hau­se zu blei­ben“, denn „die­se Hand­lun­gen wider­spre­chen nicht nur Inter­ven­tio­nen für die Volks­ge­sund­heit, son­dern sind in der wei­ßen Vor­herr­schaft ver­wur­zelt und ste­hen im Wider­spruch zu Respekt vor Schwar­zen Leben.“ Des­we­gen sei bei sol­chen Demons­tra­tio­nen eine „per­mis­si­ve Hal­tung“ völ­lig unangebracht.

Auch die­ser Brief ist nicht so abge­fah­ren, dass er meint, dass das neu­ar­ti­ge Coro­na­vi­rus sel­ber zwi­schen poli­ti­schen Moti­va­tio­nen unter­schei­de. Viel­mehr sei es der Arzt, der unter­schei­den muss. Der Nut­zen von Pro­tes­ten einer bestimm­ten Rich­tung für die Volks­ge­sund­heit über­wie­ge die Gefah­ren der Aus­brei­tung des Coro­na­vi­rus. Sol­che Pro­tes­te sei­en also an sich schon eine wün­schens­wer­te medi­zi­ni­sche Inter­ven­ti­on, wäh­rend irgend­wel­che Maß­nah­men der Poli­zei dage­gen patho­gen sei­en, genau­so wie Demons­tra­tio­nen gegen Ausgangssperren.

Der Brief geht in sei­ner For­mu­lie­rung nicht so weit, aber es wäre nur noch ein klei­ner Schritt von sei­ner Hal­tung bis zu der Idee, dass Schwar­ze Trä­ger von Gesund­heit sei­en, Wei­ße und die Poli­zei dage­gen Krankheitserreger.

Medi­zin als „revo­lu­tio­nä­re Tat“

Michel Fou­cault hat in sei­nem Leben viel Unsinn geschrie­ben, aber er hat wohl recht damit, das Medi­zin eine Ten­denz hat, eine Ver­bin­dung mit Macht ein­zu­ge­hen. Der Medi­zi­ner benutzt für die Befol­gung sei­ner Rat­schlä­ge das Wort ‚com­pli­ance‘, das auch der Poli­zist, jeden­falls im Eng­li­schen, für die Ein­hal­tung sei­ner Anwei­sun­gen ver­wen­det. Auch in der Ver­wen­dung des Begriffs ‚Lai­en‘ für Nicht­me­di­zi­ner, der ja eigent­lich nur als Gegen­teil einer spe­zi­el­len vom Volk abge­trenn­ten Pries­ter­kas­te Sinn ergibt, ver­weist in die­se Rich­tung. Gleich­zei­tig sind die Inter­ven­tio­nen der Medi­zin sol­che, die in beson­de­rem Maße Ver­trau­en erfor­dern, und die Bereit­schaft, nicht nur Neben­wir­kun­gen son­dern auch Kunst­feh­ler zu akzep­tie­ren, deren Vor­kom­men unver­meid­lich ist, weil Ärz­te eben doch kei­ne Halb­göt­ter sind. Die Medi­zin greift aus offen­sicht­li­chen Grün­den tie­fer in unser Leben ein als ande­re ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten. Begrenzt wird die Macht der rich­tig ver­stan­de­nen Medi­zin durch ihre aus­schließ­li­che Ori­en­tie­rung am Wohl des selbst­be­stimm­ten Patienten.

Aus die­ser Son­der­rol­le der Medi­zin ergibt sich die beson­de­re Gefahr ihrer Ent­gren­zung. Die­se Ent­gren­zung wur­de im Natio­nal­so­zia­lis­mus am wei­tes­ten getrie­ben, der die Medi­zin aus­drück­lich auf den Volks­kör­per bezo­gen hat, nicht auf den ein­zel­nen Pati­en­ten, die Hygie­ne vom Hän­de­wa­schen zur ‚Ras­se­hy­gie­ne‘ aus­ge­wei­tet hat, und der in gewis­ser Hin­sicht in sei­nem Selbst­ver­ständ­nis ein medi­zi­ni­sches und hygie­ni­sches Pro­jekt war. Die Medi­zi­ner haben ihm die­sen Bedeu­tungs­zu­wachs gedankt und den Natio­nal­so­zia­lis­mus in einem Maße unter­stützt wie sonst kaum eine Berufs­grup­pe. Knapp die Hälf­te der Medi­zi­ner wur­den Mit­glie­der der NSDAP. Die spe­zi­fisch mit der Medi­zin ver­knüpf­ten Ver­bre­chen, die Mor­de an Behin­der­ten, bei denen das ‚Ver­ga­sen‘ zuerst aus­pro­biert wur­de, die ‚Selek­tio­nen‘ in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, sind hin­läng­lich bekannt.

Aber auch die umge­kehr­te Kon­stel­la­ti­on ist, wenn­gleich aus offen­sicht­li­chen Grün­den mit gerin­ge­rem „Erfolg“, vor­ge­kom­men. Das Hei­del­ber­ger Sozia­lis­ti­sche Pati­en­ten­kol­lek­tiv in den Sieb­zi­ger­jah­ren mach­te den umge­kehr­ten Schritt, die Irren nicht mehr als krank son­dern als Opfer einer kran­ken Gesell­schaft zu betrach­ten. Aber auch hier konn­te Medi­zin nicht mehr als Behand­lung des ein­zel­nen Pati­en­ten ver­stan­den wer­den, son­dern die „revo­lu­tio­nä­re Tat“, durch­aus mit Gewalt­be­reit­schaft, war die eigent­li­che Medi­zin, die wie­der die Gesell­schaft, nicht das Indi­vi­du­um behan­deln woll­te. Anfäng­lich tole­riert und sogar mit staat­li­chen Mit­teln unter­stützt ende­te das Pro­jekt schnell, nach­dem die ers­ten Ver­ur­tei­lun­gen wegen Waf­fen- und Spreng­stoff­de­lik­ten kamen. Eini­ger der vom Pati­en­ten zum Volks­arzt mutier­ten Teil­neh­mer lan­de­ten dann bei der RAF.

Ver­trau­ens­ver­lust in die Medizin

Wenn Medi­zi­ner dahin kom­men, dass sie Demons­tra­tio­nen, gewalt­tä­ti­ge Aus­schrei­tun­gen oder gar Grup­pen der Bevöl­ke­rung als salu­to- oder patho­gen ein­stu­fen, je nach­dem, ob die Inhal­te auf bür­ger­li­che Vor­stel­lun­gen oder auf revo­lu­tio­nä­re Pra­xis gerich­tet sind, dann sind wir wie­der bei die­ser Ent­gren­zung der Medi­zin auf alle Berei­che des Lebens, ins­be­son­de­re die Ideen­welt. Da sich sol­che Vor­stel­lun­gen dann aber ver­mut­lich und hof­fent­lich doch nicht durch­set­zen wer­den, ist das unmit­tel­ba­re Resul­tat ein Ver­trau­ens­ver­lust in die Medi­zin. Wenn der Arzt, ins­be­son­de­re der Epi­de­mio­lo­ge, im Umgang mit Pro­ble­men wie dem Coro­na­vi­rus, etwas rät, dann fragt sich der ‚Laie‘ ver­mut­lich zuneh­mend, ob das wirk­lich ein medi­zi­ni­scher Rat im enge­ren Sin­ne ist, oder nicht viel­mehr eine nicht mit Medi­zin im enge­ren Sin­ne zusam­men­hän­gen­de Machtausübung.

Die­ser Ver­trau­ens­ver­lust trifft sich mit einem ande­ren Ver­trau­ens­ver­lust der Medi­zin, der aus ihrer Poli­ti­sie­rung rührt. Wenn epi­de­mio­lo­gi­sche Stu­di­en mit grund­le­gen­den Feh­lern zu dem ambi­tio­nier­ten Resul­tat kom­men, die Regie­rung hand­le rich­tig, wenn die Wirk­sam­keit von Hydro­xychlo­ro­quin gegen Covid-19 zum Poli­ti­kum wird, weil sie den Mann im Wei­ßen Haus bestä­ti­gen könn­te, wenn gleich­zei­tig zwar von Poli­ti­kern, aber mit medi­zi­ni­schen Begrün­dun­gen, das Vor­zei­gen eines Grund­ge­set­zes ord­nungs­wid­rig wird, dann stellt sich der Bür­ger sei­ne Fra­gen über die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Medi­zin­be­triebs. Gesund ist das alles nicht.

Ein Expe­ri­ment mit frei­wil­li­gen Probanden

Immer­hin aber hat die gan­ze Geschich­te den Vor­teil, dass wir ein Expe­ri­ment mit frei­wil­li­gen Pro­ban­den erle­ben. Wenn sich aus den Mas­sen­auf­läu­fen und Aus­schrei­tun­gen am vor­ver­gan­ge­nen Wochen­en­de kei­ne deut­lich erhöh­ten Infek­ti­ons­zah­len die­se Woche erge­ben, dann dürf­ten man­che der ver­blei­ben­den Kon­takt­be­schrän­kun­gen in Argu­men­ta­ti­ons­not gera­ten. Soll­te es die­se Infek­tio­nen geben, dann wären frei­lich die Opfer ver­mut­lich nicht vor­wie­gend unter den Teil­neh­mern, son­dern eher unter von ihnen ange­steck­ten Ange­hö­ri­gen von Risi­ko­grup­pen. Soll­te es sie nicht geben, dann wird sich zei­gen, ob die medi­zi­ni­schen Pro­gno­sen wirk­lich am Inhalt von Demons­tra­tio­nen hängen.