Die CDU hat eine alte Sau im Stall gefunden, die sie spektakulär durchs Dorf treiben kann, während ihr die Situation sonst eher entgleitet und sie von der Auslandspresse als „ohne Kompass“ und „inhaltlich ruiniert“ bilanziert wird. Sogar eine Sau in der Bedeutung gleich zwei verschiedener Metaphern hat sie gefunden, nämlich den Kinderschänder. Anlässlich des brutalen Missbrauchsfalls von Münster fordert die CDU „drastische Strafen“: „Kindesmissbrauch müsse in jedem Fall als Verbrechen und nicht mehr nur als Vergehen geahndet werden.“ Darin findet sie sich in seltener Einigkeit mit der AfD, und auch die Bild stimmt zu („Kein Verbrechen! Ministerin Lambrecht: Kindesmissbrauch ist Vergehen“), das Twitter-Universum ebenso.
Nun lohnt sich allerdings bei der Beurteilung strafrechtlicher Normen gelegentlich ein Blick ins Gesetz. §176 StGB besagt:
§ 176 Sexueller Mißbrauch von Kindern
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt.
(3) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen.
(4) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt,
2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach Absatz 1 oder Absatz 2 mit Strafe bedroht ist,
3. auf ein Kind mittels Schriften (§ 11 Absatz 3) oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie einwirkt, um
a) das Kind zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einer dritten Person vornehmen oder von dem Täter oder einer dritten Person an sich vornehmen lassen soll, oder
b) eine Tat nach § 184b [Kinderpornographie] Absatz 1 Nummer 3 oder nach § 184b Absatz 3 zu begehen, oder
4. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts, durch Zugänglichmachen pornographischer Inhalte mittels Informations- und Kommunikationstechnologie oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(5) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Nummer 4 und Absatz 5. Bei Taten nach Absatz 4 Nummer 3 ist der Versuch nur in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.
Unter diese Vorschriften fallen also Sachverhalte die unterschiedlicher nicht sein könnten. Einerseits fallen darunter fünfzigjährige Männer, die organisiert und kommerziell Kinder im Grundschulalter zum sexuellen Verkehr zwingen. Andererseits fallen darunter auch Personen, die auch nur in der irrigen (wohl nicht in allen Fällen unbeabsichtigt herbeigeführten) Annahme, mit einem Dreizehnjährigen zu reden, anzügliche Bemerkungen machen, eine Art lex Tatort Internet. Beim „Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts“ könnte man auch an einige Werke der Musik denken, von Rap bis Mozart.
Wegen Küssens und Fummelns mit einer Klassenkameradin verurteilt
Insbesondere fällt aber auch ein Sachverhalt darunter, der in der öffentlichen Diskussion wohl eher nicht wahrgenommen wird, obwohl er vermutlich die bei weitem häufigste Realisierung des Tatbestands ist: Zwei Klassenkameraden sind ein paar Monate im Alter auseinander, er ist vierzehn und sie ist dreizehn, oder umgekehrt. Die beiden kommen sich näher, ‚gehen miteinander‘, sind verliebt, knutschen oder betreiben vielleicht, was die Bravo als ‚heavy petting‘ bezeichnen würde, tauschen vielleicht auch eindeutige Textnachrichten oder Bilder aus. Richtig: diese völlig alltägliche Konstellation fällt unter den Tatbestand des Kindesmissbrauchs nach dem Wortlaut des Gesetzes.
Nun wird der Leser vielleicht einwenden, das sei doch so irre, das könne gar nicht sein. Kann es schon. Es wurde z.B. 2011 ein Vierzehnjähriger, der eine dreizehnjährige Schulkameradin jedenfalls aus seiner Sicht einvernehmlich – was aber für die Strafbarkeit unerheblich ist! – auf den Hals geküsst und ihr bedecktes Geschlechtsteil angefasst hat, vom Amtsgericht Arnstadt wegen Kindesmissbrauchs verurteilt und zu sechzig Arbeitsstunden verurteilt. Die Sache erlangte eine gewisse Bekanntheit, weil sie bis zum Bundesverfassungsgericht ging, nachdem ihm auch noch eine DNS-Probe als Sexualstraftäter entnommen und archiviert werden sollte. (2 BvR 2392/12)
Dadurch, dass es sich um ein Offizialdelikt handelt, sind im Prinzip auch den Strafverfolgungsbehörden die Hände gebunden wenn sie von einem solchen Sachverhalt erfahren, auch wenn in der Praxis vermutlich in der riesigen Mehrzahl solcher Fälle weggeschaut wird, mit unterschiedlichen Begründungen oder informell. Der Missbrauch bei dieser Sache ging wohl nach dem Dafürhalten der meisten Menschen nicht von dem Vierzehnjährigen und auch nicht von der Dreizehnjährigen aus, sondern vom Rechtssystem. Man muss sich einmal die Situation vorstellen, mit vierzehn Jahren wegen einvernehmlichen Knutschens vor Gericht gezerrt und als Kinderschänder abgeurteilt zu werden. Selbst wenn es in diesem Fall irgendwelche in den öffentlichen Akten nicht zugänglichen Faktoren gegeben haben sollte, die das ganze in einem schlechteren Licht darstellen würden: Darauf kommt es gar nicht an. Das Küssen und Fummeln ist auch dann stafbar, wenn die beiden praktisch gleichaltrigen Beteiligten für ihr Alter reif, selbstbestimmt und bis über beide Ohren verliebt sind.
Je mehr Fälle man erfassen will, desto mehr Fälle mit geringem oder strittigem Unrecht gibt es
Nun kann man den Sachverhalt natürlich abändern und ihn etwas anrüchiger machen, als wenn Vierzehn- und Dreizehnjährige knutschen. Was, wenn einer der Beteiligten nicht vierzehn sondern sechzehn ist? Was, wenn es nicht beim Knutschen bleibt? Unterschiedliche Menschen mögen da die Grenze, wo Intervention angemessen ist, unterschiedlich ziehen, aber klar ist doch, dass es sich nicht um einen harten Übergang von einvernehmlicher Liebe zu brutalstem Missbrauch handelt. Gerade weil man diese Linie nicht ziehen kann, sondern der Sachverhalt sich im richtigen Leben auf einem Kontinuum ansiedelt, wäre eigentlich auch ein Kontinuum der Strafbarkeit wünschenswert.
Der Wunsch, die Mindeststrafe zu erhöhen, steht auch im Widerspruch mit der immer weiteren Ausdehnung der strafbaren Fälle. Wenn man möglichst viele Fälle erfassen will, damit jemand nicht durch die Lappen geht, weil er gegen den Wortlaut der Vorschrift gar nicht verstoßen hat, dann führt das automatisch dazu, dass es mehr Fälle geben wird, bei denen das Unrecht eher strittig und gering ist, in denen man bestenfalls ein abstraktes Gefährdungsdelikt aber kein Opfer sehen kann, und wo eine Aburteilung als Verbrechen mit mindestens einem Jahr grob unangemessen erschiene.
Die CDU hat ihren inneren Rechtspopulisten wiederentdeckt
Diese Überlegungen schließen natürlich nicht aus, dass es Fälle geben mag, in denen die Urteile der Gerichte zu milde ausfallen. In gewissem Maß muss man wohl damit leben, aber wenn das einreißt und man ihm durch eine Gesetzesverschärfung entgegenwirken will, dann muss man doch auch die Fälle angeben, für welche die schärfere Strafe verhängt werden soll, aber noch nicht verhängt wird. Das scheint der gegenwärtigen Diskussion zu fehlen.
Die Strafandrohung für sexuellen Missbrauch von Kindern ist mit bis zu zehn Jahren im Fall von §176 und Verschärfungen bis hin zu lebenslänglich in den Fällen von §176a und §176b bereits erheblich, und es ist bekannt, dass Kinderschänder im Gefängnis keinen leichten Stand haben. Es scheint mir deshalb auch fraglich, ob eine Verschärfung der Mindeststrafe, die ja vorwiegend die leichteren Fälle betrifft, eine Abschreckungswirkung insbesondere in Bezug auf die spektakulärsten Fälle haben würde, an denen sich solche Diskussionen entzünden. Wahrscheinlicher scheint es mir, dass die entsprechende Klientel entweder kaum abzuschrecken ist oder aber sich in Sicherheit wähnt, insbesondere durch Machtverhältnisse gegenüber den Opfern und in manchen Fällen vielleicht auch durch einflussreiche Vernetzung.
Die CDU hat ihren inneren Rechtspopulisten wiederentdeckt, aber bei einem Thema, das mir eher billig scheint, eben weil sich eine riesige Mehrheit der Gesellschaft über die absolute Verwerflichkeit der Taten, an die man beim Wort ‚Kindesmissbrauch‘ zuerst denkt, vollkommen einig ist. Wenn der in Arnstadt verurteilte Junge statt sechzig dann hundert Arbeitsstunden oder gar eine Jugendstrafe bekommen hätte, dann wäre, so denke ich, damit niemandem geholfen gewesen.