Die damnatio memoriae, das Auslöschen der Erinnerung einer in Ungnade gefallenen Person, erfreute sich bekanntermaßen in der Sowjetunion einer gewissen Beliebtheit. Nun hat Princeton sich entschlossen, aus dem Namen seiner Hochschule für Politik den Namen zu streichen, dem zu Ehren sie seit 1948 benannt war, Woodrow Wilson. Wie immer bei solchen damnationes geht es weniger um das Andenken an die ausgelöschte Person, sondern um die geistige Disziplin unter den Lebenden.
Die angebliche Vernichtung der Erinnerung an Tote war in Wahrheit eine Erinnerung an die Lebenden
Die damnatio memoriae ist eine paradoxe Strafe. Wäre sie erfolgreich, dann wüsste niemand von ihr, denn wenn man weiß, dass das Andenken an eine Person ausgelöscht ist, dann gedenkt man ja dieser Person. Dieser Versuch hätte allenfalls im Menschenbild der klassischen Antike eine gewisse Plausibilität, als man nicht so sehr das ewige Leben im Jenseits sondern in der Erinnerungen der Nachgeborenen anstrebte. Schon da hat es aber nicht funktioniert, wie man daran sieht, dass der Brandstifter Herostratos uns immer noch bekannt ist, im Gegensatz zur fast allen seiner Zeitgenossen. In der Moderne wäre der Versuch nicht nur unmöglich sondern absurd.
Wenn in einem Photo aus der Sowjetunion plötzlich Personen fehlten, die vorher auf dem Photo drauf waren, auch immer noch auf hunderttausendfach abgedruckten alten Veröffentlichungen drauf sind, dann konnte niemand ernsthaft geglaubt haben, dass die Erinnerung an sie so getilgt werden könne – eher im Gegenteil. Es ging um etwas anderes. Natürlich haben die Leute das bemerkt, und jedem war klar, dass einem selber das auch blühen könnte, nicht nur in der Auslöschung der Erinnerung sondern auch in der vorhergehenden Auslöschung der Person. Die angebliche Vernichtung der Erinnerung an Tote war in Wahrheit eine Erinnerung an die Lebenden.
Außergewöhnlich bedeutende Rolle in der Geschichte von Princeton
Nicht anders verhält es sich im Falle der Tilgung des Namens Wilsons nicht nur von der Schule für Politik sondern auch von einem Wohnheim für Untergraduierte.
Woodrow Wilson spielte eine ganz außergewöhnlich bedeutende Rolle in der Geschichte von Princeton, wo er seit 1890 Professor und von 1902 bis 1910 Präsident der Universität war und einen wesentlichen Beitrag leistete, die akademischen Standards anzuziehen und aus dem Golf- und Herrenclub mit angeschlossenem Lehrbetrieb eine Universität von Weltgeltung zu machen.
Nun müssen sich Wilsons Tätigkeiten als Universitätspräsident und später dann als Gouverneur und als Präsident der Vereinigten Staaten selbstverständlich Kritik gefallen lassen. Der Vorschlag, die Welt auf kriegerischem Wege „sicher für die Demokratie“ zu machen, bei gleichzeitigem Unvermögen, für den Eintritt in den Völkerbund auch nur eine Mehrheit im eigenen Land zu bekommen, zeigt zumindest eine gewisse Hybris, egal wie weit man die weiteren Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts darauf zurückführen will. Auch in der Innenpolitik betrieb er eine progressive Politik mit einer massiven Ausweitung der Rolle der Bundesregierung und zu diesem Zwecke auch der Steuersätze. Aber um nichts davon geht es bei der Tilgung von Wilsons Namen.
Kann den Standards unmöglich genügen
Nein, Wilson soll ein Rassist gewesen sein, und deswegen muss er weg, jetzt und sofort. Es stört dabei nicht, dass die Universität das erst 2015 nach einer Besetzung des Präsidentenbüros durch ‚Protestierende‘ die Sache schon einmal untersucht hat und beschlossen hat, den Namen beizubehalten.
Mit Wilsons Rassismus ist es so eine Sache. Er war ein Südstaatler, der als Kind noch den Bürgerkrieg miterlebt hat. Während seiner Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten waren die Beziehung zwischen den Rassen auf einem Tiefpunkt, aus Gründen, die Wilson jedenfalls nicht zu vertreten hatte. Er hat einerseits die Rassentrennung in der Verwaltung, damit durchaus dem Wunsch der öffentlichen Meinung entsprechend, ausgeweitet, wollte andererseits aber im Völkerbund Vorschriften zum Schutz rassischer Minderheiten in internationales, bindendes Recht gießen. Wenn man ihn als Kind des Ortes und der Zeit, in die er geboren wurde, nimmt, dann war ein kein rassistischer Scharfmacher.
Misst man Wilson natürlich an Standards der extremen Linken von heute, dann kann er denen unmöglich genügen, genauso wenig wie irgendeiner seiner Zeitgenossen. Mit diesem Maß gemessen wird es allerdings auch für viele noch lebende Zeitgenossen auf der Linken, der ja Wilson doch auch angehörte, schwierig, wenn sie nur lange genug im Geschäft waren, um überhaupt eine Sammlung von Positionen über zwei oder drei Jahrzehnte zu liefern. Wer war denn in den Neuzigern für die homosexuelle Ehe, insbesondere von den Leute, die heute alle, die immer noch nicht dafür sind, als Monstren brandmarken wollen? Welche deutsche Politiker in irgendeiner ernsthaften Verantwortung wollte noch 2014 „Kein Mensch ist illegal“ als Motto der Einwanderungspolitik? So gemessen hat jeder etwas Unverzeihliches auf dem Kerbholz, egal wie hart links er steht und schon immer stand. Jeder, der etwas auf dem Kerbholz hat, sollte sich aber vor den Konsequenzen hüten.
Vor den Scherben der Karriere
Und damit kommen wir zum Schluss und zur eigentlichen Nachricht, die von der Tilgung des toten Wilson an die Lebenden ausgeht. Traditionell wird die akademische Freiheit in Amerika sehr wichtig genommen, aber auch seit einiger Zeit angegriffen.
Wenn ein achtzehnjähriger Student sieht, wie über Nacht und entgegen vorheriger Entscheidungen selbst der Name eines bedeutenden Präsidenten der Universität und der Nation getilgt wird, wie viel Vertrauen kann er noch haben, dass nicht er aus der Matrikel getilgt wird, wenn er in einer Übung eine Position vertritt, die unpopulär ist? Die Aufnahme in eine Universität wie Princeton ist für viele Studenten ein lebensveränderndes Ereignis, für das man extrem hart gearbeitet hat. Will man das wirklich riskieren, nur um Ideen zu diskutieren und auszuprobieren, auch wenn man in den ganzen schönen Reden zu offiziellen Anlässen aufgefordert wird, genau das zu tun?
Ein amerikanischer Professor muss – das ist sozusagen die dortige Variante des Habilitationsverfahrens – sieben Jahre lang in recht prekären Verhältnissen als Assistenzprofessor arbeiten und forschen, bis dann darüber entschieden wird, ob er eine recht gut bezahlte Lebensstellung bekommt oder nicht. Im negativen Fall steht er oft vor den Scherben seiner Karriere, Mitte Dreißig oder älter, ohne Ersparnisse und ohne außerakademische Berufserfahrung. Wird jemand in dieser Lage die Tilgung Wilsons nicht als Drohung mit der Tilgung der eigenen Karrierepläne verstehen? Werden angehende Professoren in dieser Lage sich nicht versucht sehen, sogar Kollegen oder gar Studenten zu denunzieren, um ihre eigene politische Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen?
Es hat seinen Grund, warum die damnatio memoriae in der Moderne insbesondere als Instrument der Sowjetunion verschrieen ist. Ihr Übernahme an den besten Universitäten der Welt (ähnlich Princeton beispielsweise für John C. Calhoun, einem der bedeutendsten politischen Denker der Vereinigten Staaten, auf Yale), Institutionen, die eigentlich in ganz besonderer Weise dem freien Denken gewidmet sein sollten, ist kein gutes Zeichen.