In der FAS findet sich heute ein Kommentar ‚Fundamentalisten machen uns krank‘. Liva Gerster schreibt:
Egal welcher Religion sie auch angehören, die Traditionalisten, die Orthodoxen und die Radikalen sind die „Superverbreiter“ dieser Pandemie. Sie stellen ihren Glauben über die Vernunft der Mehrheit, ja sogar über die Staatsgewalt.
Liva Gerster, Fundamentalisten machen uns krank, FAS, 19.04.2020
Die danach abgehandelten Fallbeispiele, von (aus protestantischer Sicht) eher oberflächlichen religiösen Ritualen, die man in Zeiten einer umgehenden Krankheit besser unterlässt oder abwandelt, dürften nicht kontrovers sein, und ich will mich damit nicht aufhalten. Aufmerksam werden sollte man allerdings bei dem als selbstverständlich vorausgesetzten Argument, dass es falsch sei, den Glauben über die Vernunft der Mehrheit und über die Staatsgewalt zu stellen.
Meine historischen Vorbilder, Johann Jacob und Friedrich Carl Moser, die diesem Blog ihren Namen liehen, hätten derartige Vorstellungen scharf abgelehnt, obwohl sie Staatsrechtler waren und keine Theologen.
Apostelgeschichte und Grundgesetz
Die Apostelgeschichte bietet ein Beispiel, in dem den Aposteln das Verkünden ihres Glaubens streng verboten wurde, sie es aber trotzdem taten und sich so rechtfertigten:
Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Apostelgeschichte 5:29
Es gibt also für den Christen klar Dinge, die nicht Gegenstand der Mehrheitsvernunft und auch nicht der Staatsgewalt sind. Das ist nicht nur in der Bibel so, sondern auch im Grundgesetz, sogar in seinem ersten Satz schon:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Grundgesetz, Präambel
Das Bewusstsein der Verantwortung vor Gott kommt also zeitlich und logisch vor der Konstituierung eines Volkes und eines Staates.
Die Bundesrepublik hat ihre Gründungshelden, und diese Helden haben in der Tat ihren Glauben vor die Vernunft der Mehrheit und vor die Staatsgewalt gestellt
Die Bundesrepublik hat ihren Ursprung nicht in einem erfolgreichen Freiheitskampf gegen einen der furchtbarsten Tyrannen aller Zeiten, kein Gefecht von Lexington und Concord als Ausgangspunkt ihrer Existenz, auch keine Tell-Geschichte. Sie hat einen sich weniger gut für Feuerwerk und martialische Reden eignenden Ursprung darin, dass der Tyrann nur durch die Befreiung von außen entfernt wurde, die gleichzeitig totale Niederlage und im Westteil jedenfalls erfolgreicher Neuanfang in Frieden und Freiheit war.
Trotzdem hat die Bundesrepublik ihre Gründungshelden – wenn auch in den Anfangsjahren als solche mindestens umstritten – im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die zu einem erheblichen Teil religiös motiviert waren, auf ihre jeweils ganz unterschiedliche Weise zwischen einem Grafen Moltke, einem Dietrich Bonhoeffer oder den Geschwistern Scholl. Diese Helden haben in der Tat ihren Glauben vor die Vernunft der Mehrheit und vor die Staatsgewalt gestellt, und sie hatten recht damit.
Jede Behauptung, diese Widerstandskämpfer hätten falsch gehandelt, weil man seine religiösen und moralischen Überzeugungen immer der Mehrheit und der Staatsgewalt unterzuordnen habe, sollte im Verständnis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eindeutig verworfen werden. (Um es klarzustellen: Ich denke nicht, dass Frau Gerster eine solche Behauptung implizieren wollte, aber es scheint mir, dass ihr Argument sie doch ungewollt impliziert.)
Selbst ein Paulus, der doch wohl mehr Berufung und Legitimation hatte als wir, hat sich auf das Verfassen von Briefen und die Predigt beschränkt
Damit stellt sich nun aber die Frage, wie man damit umgehen soll, wenn nicht die Tyrannei sondern die freiheitlich-demokratische Grundordnung von religiösem Extremismus herausgefordert wird, und auch wie man mit der Erfahrung der deutschen Urkatastrophe des Dreißigjährigen Krieges umgehen will.
Mit Bezug auf die Konfessionskriege kann man diese Frage relativ leicht dahingehend beantworten, dass Jesus Christus und die Apostel selber niemals gewalttätig missioniert haben, und dass die heilige Schrift beim besten Willen keinen Anhaltspunkt dafür gibt, wegen Dingen wie eines ungeklärten Verständnisses von nicht biblischen Begriffen wie ‚Transsubstantiation‘ sich die Köpfe einzuschlagen und dabei ein Drittel der Bevölkerung umzubringen. Selbst ein Paulus, der doch wohl mehr Berufung und Legitimation hatte als wir, hat sich auf das Verfassen von Briefen und die Predigt beschränkt.
Die Einsicht, dass man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen, ist keineswegs eine Aufforderung zu Radikalisierung und Gewalt, sondern eine zur stetigen Prüfung des eigenen Gewissens
Wie soll man aber damit umgehen, wenn eine gewalttätig missionierende Religion ein Gemeinwesen herausfordert? Historisch gab es da in Deutschland beispielsweise den extremen Teil der Täuferbewegung, die heutigen gewaltfundamentalistischen Spielarten anderer Religionen vielleicht näherstand, als man zunächst denkt. Wie es mit dem Täuferreich zu Münster ausging wissen wir, und die Täuferkörbe hängen dort noch heute an der Lambertikirche als – vermutlich vom Publikum nicht verstandene – Mahnung gegen Blitzradikalisierung. Die damaligen Ansichten zur Bestrafung sind glücklicherweise außerhalb unseres Vorstellungshorizonts gerückt, aber dass sich eine Gesellschaft auch gegen eine fundamentalistisch-religiöse Tyrannei verteidigen soll und darf, unterliegt keinem Anstand.
Die Einsicht, dass man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen, ist also keineswegs eine Aufforderung zu Radikalisierung und Gewalt, sondern eine zur stetigen Prüfung des eigenen Gewissens im Bewusstsein, dass man sich auch in Dingen verrennen kann, die aus einigem Abstand betrachtet offensichtlich absurd sind.
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung darf das Gemeinwesen weder an religiösen Fundamentalismus noch an irreligiöse weltliche Tyrannei ausliefern
Die auf dem Christentum, und eben nicht auf einer anderen Religion und auch nicht auf der Irreligion aufgebaute freiheitlich-demokratische Grundordnung fordert von ihren Bürgern einerseits, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, andererseits, das in Weisheit und Demut zu tun. Sie erkennt dabei die Religionsfreiheit an und missioniert niemanden, aber sie darf das Gemeinwesen weder an religiösen Fundamentalismus – und schon gar nicht an importierten – noch an irreligiöse weltliche Tyrannei ausliefern, sondern ruft jeden Bürger zu ihrer Verteidigung auf.