In Gelsenkirchen wurde heute morgen ein SEK-Beamter bei einem Schusswechsel getötet. Der Pressedarstellung nach soll die Polizei in einer Drogensache ermittelt haben. Der Beschuldigte habe durch die Tür geschossen und getroffen, die Polizei haben ebenfalls geschossen, aber verfehlt. Der Beschuldigte habe sich widerstandslos festnehmen lassen.
Parallelen zum Fall des freigesprochenen Hell’s Angel
Aus der Pressedarstellung kann man Details nicht entnehmen, und die werden erst zu ermitteln sein, aber insbesondere die Umstände, dass durch die Tür geschossen wurde und dass der Beschuldigte sich dann festnehmen ließ, legen einen Verdacht nahe, dass die Situation eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Fall haben könnte, in dem das dann mit einem Freispruch für einen Hell’s Angel endete, der ebenfalls durch die Tür einen Polizisten erschoss. Der Hell’s Angel argumentierte erfolgreich, dass er davon ausging, dass es sich bei den gewaltsam Eindringenden nicht um Polizei sondern um Angreifer handelte, was ihn zur Notwehr berechtigte.
Wenn einem jemand die Tür einzurammen versucht, dann muss und soll man doch hoffentlich noch nicht die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass das ein etwas unkonventioneller Einsatz der Polizei sein könnte. Vielmehr wird man davon ausgehen, dass brutale Gewalt an der Tür ein Angriff sein wird, der mit brutaler Gewalt gegen die Personen innen weitergehen wird sobald die Tür aufgeht.
Daraus scheint mir dann aber glasklar zu folgen, dass Brachialeinsätze mit der Ramme anstelle der Betätigung der Haustürklingel sich nur rechtfertigen lassen, wenn es um die Abwendung einer wirklich konkreten Gefahr geht, idealtypisch bei einer Geiselnahme. Wenn man das routinemäßig der Beweissicherung wegen bei Leuten macht, die keinen Besuch von der Polizei erwarten, dann ist das nicht nur ein Auftreten der Polizei, das man sich nicht wünscht, sondern es stellt geradezu mutwillig Bewohner und Polizisten in eine Situation, in der tödliche Gewalt beider Seiten gegeneinander nicht nur zu erwarten sondern sogar noch rechtens ist. Das kann man doch nicht wollen.
1972 keine Spezialkräfte gegen Terroristen, heute kommen sie wegen Durchsuchungsbeschlüssen in die falsche Wohnung
Es hat sich auf diesem Feld in wenigen Jahrzehnten eine brutale Verschiebung der Maßstäbe aufgetan.
Bei dem Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 hatte man gar keine Spezialkräfte in einer Situation, in der wirksam angebrachte tödliche Gewalt gegen die Terroristen absolut angemessen gewesen wäre und Warnungen vor einem Anschlag bei einem sehr exponierten Ereignis vorlagen. Die unsäglichen späteren Diskussionen zu „finalem Rettungsschuss“ waren kein Ausdruck von Rechtstaat sondern ein Trauerspiel. Jemanden, der im Begriff ist, zu morden, hindert man daran.
Inzwischen aber kommt das SEK (plus seine Kollegen mit anderen Buchstabenkombinationen) nicht mehr primär zur Rettung Unschuldiger vor Mördern, sondern zur Umsetzung von Durchsuchungsbeschlüssen selbst bei rein possessorischen Delikten, die im Görlitzer Park mindestens toleriert und auf sozialen Netzwerken selbst von Spitzenpolitikern zelebriert werden. Mit etwas Pech kommt es auch in die falsche Wohnung (Troisdorf, Duisburg, Rollhausen, Hannover, Mainz – und das ist von der ersten Seite meiner Google-Treffer dazu).
Das haben die Bürger nicht verdient und das haben die Polizisten nicht verdient
Winston Churchill wird ein Zitat zugeschrieben, das die Sache auf den Punkt bringt: „Demokratie bedeutet, dass wenn es früh am Morgen an der Tür rummst, es der Milchmann ist.“ Die Authentizität dieses Zitats ist fragwürdig, aber es trifft die Sache. Wollen wir es hinnehmen, dass es immer häufiger ohne wirkliche Notlage an der Tür rummst, vielleicht sogar an der falschen, und dann mit etwas Pech Bewohner, Polizisten oder auch der Familienhund tot oder verletzt sind? Das haben die Bürger nicht verdient und das haben die Polizisten nicht verdient und die Hunde auch nicht.
Könnte es bei einer Beschränkung von in Auftritt und Taktik paramilitärischen Polizeiaktionen auf wirkliche Notlagen passieren, dass ein Kleindealer schnell seinen Vorrat die Toilette herunterspült? Sicher. Aber dass Schuldige durchs Netz gehen, kann durch jeden einzelnen Grundrechtsartikel unseres Grundgesetzes passieren, durch jeden einzelnen rechtstaatlichen Grundsatz wie beispielsweise die Unschuldsvermutung. Das heißt Rechtstaat.
(Um es noch einmal klarzustellen: Zur Situation in Gelsenkirchen weiß ich nur, was in der Zeitung steht, und kann den Fall nicht beurteilen. Die Überlegungen hier gelten aber allgemein, auch wenn in diesem konkreten Fall die Situation eine ganz andere gewesen sein sollte.)