Die FAZ hat einen Beitrag, „warum Psychologie“ als Studienfach „so im Trend ist,“ teilweise mit geforderten Notendurchschnitten von 1,0 für den numerus clausus. Die Psychologie ist mittlerweile siebtbeliebtestes Studienfach in Deutschland. Der Artikel erwähnt gute Berufsaussichten, den Wunsch, sich selbst zu verstehen, den Wunsch nach Selbstoptimierung. Das mag alles sein, aber ich möchte den Vorschlag machen, dass die Attraktivität des Fachs auf junge Leute, die eben noch nicht wissenschaftlich zu arbeiten gelernt haben, auch einen anderen Grund hat: Es handelt sich um ein Fach am Rande der Wissenschaftlichkeit.
Ein Fach in der Replikationskrise
In den vergangenen Jahren sahen sich einige Teile des akademischen Betriebs, aber zuvorderst die Psychologie, mit der sogenannten Replikationskrise konfrontiert. (Als Suchbegriff, wenn Sie mehr dazu lesen möchten, empfiehlt sich das englische ‚replication crisis‘.) Viele experimentelle Resultate der Psychologie halten dem Versuch der Reproduktion nicht stand. Was deutlich schlimmer ist: Sie halten dem Versuch der Replikation nicht stand, obwohl nicht nur Zusammenfassungen der Resultate veröffentlicht werden, sondern auch statistische Auswertungen mit p‑Werten weitaus besser als 0,05, der magischen Linie für Veröffentlichungen, die naiv interpretiert nahelegt, dass mit 95% Wahrscheinlichkeit das Resultat kein Zufall gewesen sein könne.
Das Hantieren mit p‑Werten als Selbstvergewisserung der eigenen Wissenschaftlichkeit ist in der Tat ein Markenzeichen der modernen akademischen Psychologie geworden, und der Artikel über die Beliebtheit des Fachs bemerkt, „dass im Studium mehr Statistik als Traumdeutung auf [einen] zukomm[t].“ Nun sind aber genau diese p‑Werte ein gefährliches Werkzeug, mit dem man sich leicht absichtlich oder unabsichtlich aufs Glatteis begeben kann.
Statistische Signifikanz
„Statistische Signifikanz“ bedeutet streng genommen, dass man ein Ergebnis nicht plausibel als zufällig beispielsweise durch Würfe einer idealisierten, „fairen“ Münze zustandegekommen betrachteten kann. Daraus folgt allerdings keineswegs eine behauptete Kausalität, sondern es kann auf vielerlei Weise zustandekommen, z.B. dadurch, dass man es so oft probiert, bis man ein passendes Ergebnis hat, dadurch, dass man Daten passend siebt, oder durch eine ganz andere Kausalität als die, an welcher man interessiert ist, beispielsweise, dass man die Probanden auf die eine oder andere Weise in die Richtung eines erwarteten Ergebnisses lenkt.
Dazu kommen noch massive institutionelle Anreize, solche Fehler zu machen, absichtlich oder nicht. Man kann schlecht eine Karriere auf einer Reihe von Artikeln aufbauen, die alle zum Schluss kommen, dass kein bedeutsamer Effekt gefunden wurde.
Glücksspiel und Gesellschaft
Diese Probleme sind der Psychologie nicht eigen, sondern eigentlich schon im Wort „Statistik“ angelegt. Die Statistik im Wortsinne ist ja die Beschreibung sozialer Verhältnisse in Staaten (daher der Name) mit mathematischen Methoden. Die Beispiele, aus denen sich der mathematische Formalismus der Statistik entwickelt hat, sind dagegen unweigerlich unbelebte physikalische chaotische Systeme, die sich als Zufallsquellen für das Glücksspiel eignen, wie Roulettekessel oder Münzwürfe.
Diesen chaotischen Systemen ist einerseits eine leichte Verständlichkeit eigen und andererseits eine hinreichende mathematische Komplexität, dass man die einzelnen Ergebnisse nicht voraussagen kann, ihre Aggregation aber schon. Soziale Phänomene haben eine noch viel höhere Komplexität, aber sie haben auch Eigenschaften, welche Zufallsquellen für Glücksspiele nicht haben, insbesondere eine Rückkopplung von Aussagen über sie auf das System selbst. Eine Roulettekugel ändert ihr Verhalten nicht, weil jemand auf ein bestimmtes Verhalten gewettet hat, während ein Wähler durchaus seine Wahlentscheidung von den Prognosewerten verschiedener Parteien abhängig machen kann.
(Wenn jemand den Lauf einer Roulettekugel effektiv modellieren und vorhersagen kann, dann verliert sie genau dadurch die Eignung zum Glücksspiel wie als Exempel der Statistik, und man müsste in diesem Fall die Rückkopplungsmechanismen im System so weit steigern, dass die Vorhersagbarkeit wieder verloren geht. Edward Thorpe hat sich in den Fünfzigerjahren mit solchen Vorhersagen durch einen versteckt zu tragenden Analogrechner beschäftigt, ist dann aber auf Finanzmärkte umgestiegen, auf denen mehr zu verdienen ist und die Wahrscheinlichkeit, Prügel zu beziehen, deutlich geringer ist, als wenn man ein Kasino betrügt.)
Die Probanden sind in ihr Selbstbild emotional investiert
In der Psychologie treten diese Probleme der Statistik nun aber besonders gehäuft auf, aus Gründen die in ihrer Methodik und in ihrem Gegenstand liegen. Methodisch hat sich die Psychologie für ihre Anerkennung als Wissenschaft, angefangen im späten neunzehnten Jahrhundert mit Francis Galton, vollkommen von der Statistik abhängig gemacht. Man will eine evidenzbaiserte Wissenschaft sein, und von dieser Anerkennung als Wissenschaftler und nicht nur als schöngeistiger Literat hängt ganz wesentliche die Rechtfertigung und Finanzierung des akademischen Lehrbetriebs ab.
Bei aller Sehnsucht nach wissenschaftlicher Seriosität, wie die Physik sie genießt, hat es die Psychologie aber mit einem Forschungsgegenstand zu tun, der sich weitaus weniger williger seiner Exploration hingibt als derjenige der Physik. Aussagen oder beobachtete Verhaltensweisen von Menschen werden sich logischerweise ändern, wenn jemand weiß, dass er Teil eines psychologischen Experiments ist. (Ganz trivial werden beispielsweise sich beobachtet wissende Menschen weniger häufig in der Nase bohren als unbeobachtete.) Die Probanden sind in ihr Selbstbild emotional investiert, und, schlimmer noch, die an einer Psychologiefakultät am einfachsten zu gewinnenden Probanden sind Studenten der Psychologie, die vermutlich in besonderer Weise in bestimmte Aspekte ihres Selbstbilds investiert sind. Gleichzeitig kennen viele Menschen psychologische Theorien und sind sich möglicherweise bewusst, welcher Aspekt ihres Selbstbilds gerade abgeprüft wird, so dass sich eine direkte Rückkopplung zwischen wissenschaftlichem Betrieb und dem untersuchten Gegenstand ergibt. Alles keine guten Voraussetzungen für valide Ergebnisse.
Ist die Psychotherapie nennenswert über die Seelsorge in den Kirchen fortgeschritten?
Die grundsätzlichen Schwierigkeiten mit dem Gegenstand der Psychologie setzen sich in ihrer praktischen Anwendung fort. Es gibt die berühmte ‚Dodo-Hypothese‘, die besagt, dass alle anerkannten psychologischen Therapieformen ungefähr gleich gute Ergebnisse produzieren, auch wenn ihre theoretischen Grundlagen vollkommen widersprüchlich sind.
Es gibt heute beispielsweise Behandlungen von Depressionen im einen Extrem mit der literarischen Extravaganz freud’scher Psychotherapie, im anderen Extrem mit dem Verständnis von Depression als medikamentös zu behebendes chemisches Ungleichgewicht im Gehirn, und dazwischen mit weniger extravaganten und rationaler begründeten Formen der Gesprächstherapie. Man würde es vermutlich als eine Krise der Medizin auffassen, wenn bei einer Krankheit eine Operation, eine Behandlung mit einem stofflich wirksamen Medikament, eine homöpathische Behandlung irgendwelcher ‚Miasmen‘ und eine Behandlung durch ‚Pendeln‘ alle ungefähr gleich wirksam (und wirksamer als keine Behandlung!) wären. Bei psychologischen Behandlungen gibt es aber Anhaltspunkte, dass sich das jedenfalls bei manchen Symptombildern genau so verhält. Man könnte daraus natürlich den Schluss ziehen, dass die untereinander widersprüchlichen theoretischen Grundlagen verschiedener Behandlungsmethoden auf eher wackeligen Beinen stehen müssen.
Bestenfalls könnte man diese Dodo-Hypothese als ein ökonomisches Gleichgewicht verstehen: Anerkannt sind die Methoden, welche optimale Ergebnisse liefern, woraus logisch folgen würde, dass anerkannte Methoden gleich gut wirken. Aber auch in dieser optimistischen Interpretation müsste sich die praktisch angewandte Psychologie Fragen nach der Gültigkeit ihrer theoretischen Grundlagen, mithin auch nach dem Nutzen des spezialisierten Studiums, gefallen lassen. Ist sie nennenswert über die klassische Lehre der Seelsorge in den Kirchen fortgeschritten, die für sich keine eigentliche Wissenschaftlichkeit beansprucht? Wenn nicht, warum bezahlt dann die Kasse das eine, aber nicht das andere? Handelt es sich vielleicht eher um ein Handwerk als um eine Wissenschaft, und sind die relevanten Ausbildungsteile eher die, die einer handwerklichen Lehre entsprechen, also das Ausprobieren und Einüben? Es liegt auf der Hand, dass die Untersuchung solcher Fragen möglicherweise karrierebegrenzend im akademischen Betrieb der Psychologie wirken könnte.
„Psycho-Gebabbel“?
Nun aber zurück zu meiner Ausgangsfrage nach der Beliebtheit der Psychologie unter Studienanfängern. Sie hat in dieser Beliebtheit wohl in gewisser Weise die Soziologie der Großelterngeneration abgelöst, die unter einer ganz ähnlichen Spannung zwischen dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit und der Realität eines sich dazu nicht wirklich hergebenden Forschungsgegenstands litt und leidet, bisweilen verbunden mit einem marxistischen Machtanspruch. Sie ist darin auch mit einer anderen zwar nicht als Studienfach aber als Leidenschaft beliebten Wissenschaft verwandt, der vom Einfluss des Menschen auf das Klima, wo sich ebenfalls der Anspruch von Wissenschaftlichkeit und mathematischer Methoden mit einem extrem stark rückgekoppelten und deswegen nur begrenzt vorhersagbaren System trifft, was durch den eigenen Anspruch, das untersuchte System auch noch zu beeinflussen, noch verschärft wird.
Ein Artikel im Independent hat die Replikationskrise der Psychologie dahingehend pointiert, das es sich bei psychologischer Forschung weitgehend um ‚Psycho-Gebabbel‘ handle. Ich möchte die Vermutung aufstellen, dass genau dieser Umstand etwas mit ihrer Beliebtheit zu tun hat, wie auch in den beiden anderen genannten Beispielen.
Diese Wissenschaften, wenn sie das denn sind, vereinen den Anspruch wissenschaftlicher Autorität mit hinreichend wackeligen theoretischen Grundlagen, dass man im Grunde fast jedes gewünschte Ergebnis erhalten kann, selbstverständlich mit exzellentem p‑Wert. Gleichzeitig haben diese Felder Themen zum Gegenstand, die überall den Alltag berühren, so dass aus dem Anspruch wissenschaftlicher Autorität der weitergehende Anspruch auf Autorität über den Alltag entstehen kann, mindestens aber auf Interpretationsmacht über ihn. Man braucht dazu auch nicht mehr das ausnehmende literarische Talent eines Sigmund Freud, der zwar als Wissenschaftler untauglich, aber als Literat genial war, denn heute ist statt dieses literarischen Talents lediglich ein leicht zu bekommender guter p‑Wert gefragt. (Für einen von 0,05 braucht man auch im schlimmsten Fall das Experiment nur im Schnitt zwanzigmal zu wiederholen oder einfach ‚Außreißer‘ zu entfernen, und voila.)
Ich möchte an dieser Stelle einmal auf die Diskussion möglicher Konsequenzen für die Finanzierung der akademischen Psychologie und die Ausbildung praktisch arbeitender Psychotherapeuten verzichten und stattdessen meinerseits eine pointierte Hypothese aufstellen: Psychologie ist das Opium der Studenten!