Die Frankfurter Allgemeine Zeitung war einmal ein liberales Blatt mit konservativen Beimischungen. War einmal. Eine schöne Illustration, dass der Wind sich gedreht hat, findet sich gerade auf dem Internetangebot dieser Zeitung, dessen Titelseite gleich zwei Artikel bereithält, die vor „laissez-faire“ warnen. Einer davon arbeitet sich an einer „[b]randgefährlichen Laissez-faire-Haltung“ bezüglich Covid-19 ab, aber der andere ist interessanter: ‚Laissez-faire auf dem Schulhof hilft nicht‘. Die Zügel müssen angezogen werden!
Pausengespräch auf Klingonisch
Der Artikel dreht sich um einen Fall, in dem eine Schülerin, offenbar entgegen beschlossener „Klassenregeln“, in der Pause auf dem Schulhof eine Konversation auf Türkisch hatte. Dafür wurde von der Lehrerin eine Strafarbeit verhängt, nachdem andere Schüler sich beschwerten.
Das ist nun eigentlich aus liberaler Perspektive ein bedenklicher Vorgang. Eine öffentliche Schule ist eine staatliche Einrichtung, zu deren Besuch man durch die Schulpflicht gezwungen wird, und die sowohl rechtlich in ihrer Eigenschaft als staatliche Einrichtung als auch ihrem Erziehungsauftrag nach an das Grundgesetz gebunden ist.
Es scheint mir mindestens fraglich, ob es im Hinblick auf Artikel 2, 3 und 5 des Grundgesetzes statthaft wäre, eine Privatkonversation in der Pause an einer staatlichen Einrichtung im Hinblick auf ihren Inhalt und die Sprache, in der sie geführt wird, zu reglementieren. Wenn zwei besonders nerdige Schüler das Studium des Klingonischen betreiben, dann wird man ihnen ein Pausengespräch in dieser Sprache nicht verbieten können. Daran ändert auch eine gemeinsam beschlossene ‚Klassenregel‘ nichts. Eine Schulklasse ist kein legislatives Organ, dessen zu erwartende Ergebnisse wohl im ‚Herrn der Fliegen‘ vorweggenommen wurden. Aber selbst wenn sie es wäre, dürfte der Inhalt von Privatgesprächen in der Pause gesetzgeberischem Eingriff entzogen sein und die Minderheit diesbezüglich einen Schutz vor der Mehrheit genießen.
Babylonisches Sprachengewirr
Diese Feststellung dürfte an einer Schule, deren Schüler alle Deutsch als Mutter- oder als selbstverständliche Umgangssprache in der Öffentlichkeit pflegen, vollkommen selbstverständlich und unwidersprochen sein. Niemand würde eine Strafarbeit verhängen wollen, weil zwei deutsche Schulkinder ihr neu gelerntes Englisch miteinander ausprobieren, sondern das würde vermutlich sogar begrüßt werden, zumal im Unterricht die Konversation in der Fremdsprache oft viel zu kurz kommt. Auch die Pflege des lokalen Dialekts auf dem Pausenhof wird man schlecht verbieten können oder wollen.
Der Umstand, der zu dem Fremdsprachenverbot geführt hat, liegt darin, dass die betreffende Schule einen Anteil von zwei Fünfteln an Einwandererfamilien hat. Mit dem Fremdsprachenverbot soll ein „babylonisches Sprachengewirr“ vermieden werden, das „Missgunst und Misstrauen“ erzeuge. Der Plan ist also Integration durch erzwungene Konformität.
Art. 2 des Grundgesetzes inkompatibel mit der ‚multikulturellen Einwanderungsgesellschaft‘
Diesen Zusammenhang zwischen Einwandereranteil und eigentlich zutiefst illiberalen Regeln benennt der Kommentator Rüdiger Soldt selber, offenbar aber ohne weiter über die Konsequenzen nachzudenken:
Je multikultureller und komplexer Einwanderungsgesellschaften werden, desto wichtiger wird es, Regeln zu vereinbaren. Denn schon die Deutschen streiten ja oft über ihre eigenen Werte und Überzeugungen; Migranten bringen oft noch ganz andere Ansichten mit. Ein gemeinsames Gesellschaftsbewusstsein und Werteverständnis lassen sich nicht voraussetzen, sie müssen erst wachsen. Am besten ist es, wenn sich Schulen oder Jugendklubs solche Regeln selbst auferlegen und deren Einhaltung auch selbst kontrollieren. Mit Laissez-faire wird sich das Versprechen von Aufstieg und Teilhabe von Einwanderern nicht einlösen lassen.
Laissez-faire, der Inhalt von Artikel 2 des Grundgesetzes und Grundlage seines Menschenbildes, ist also nach Ansicht Soldts inkompatibel mit einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft, der die Voraussetzung eines gemeinsamen „Gesellschaftsbewusstsein[s] und Werteverständnis[ses]“ fehlt. Wo die gemeinsame Sprache und die gemeinsamen Werte nicht existieren, sollen sie geschaffen, letztlich durch staatliche Macht erzwungen werden.
Was man mit Marx nicht erreicht hat, soll nun durch die Zuwanderung kommen
Man kann sich nun so seine Fragen stellen, ob diese Art von nation building in der heutigen Zeit und unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich und erfolgversprechend ist. Sie macht aber jedenfalls eines klar: Mehr „multikulturelle“ Zuwanderung führt nahezu zwangsläufig zu weniger Liberalismus.
Eine liberale Gesellschaft hat ein gemeinsames „Gesellschaftsbewusstsein und Werteverständnis“ zur Voraussetzung, und je mehr das durch Zuwanderer mit einem völlig anderen Gesellschaftsbewusstsein und Werteverständnis in Frage gestellt wird, desto illiberaler wird die Gesellschaft. Es überrascht deshalb nicht, dass gerade diejenigen, die ohnehin ein Problem mit dem westlichen, liberalen Gesellschaftsmodell haben, so gerne auf forcierte Zuwanderung von Gruppen mit begrenzter Integrationsfähigkeit setzen. Was man mit Marx nicht erreicht hat, soll nun durch die Zuwanderung kommen.