Die Unhei­li­ge Allianz

Der vom EU-‚Coronagipfel‘ beschlos­se­ne ‚Rechts­staats­me­cha­nis­mus‘ ist orwel­lia­nisch benannt und ver­letzt ele­men­ta­re Prin­zi­pi­en der Recht­staat­lich­keit. Als Ver­such, Recht­staat­lich­keit in den euro­päi­schen Natio­nen von einem Zusam­men­tref­fen der euro­päi­schen Staats­chefs garan­tie­ren zu las­sen, hat er mit der Hei­li­gen Alli­anz einen geschei­ter­ten his­to­ri­schen Vorgänger.

Mar­tin Schulz stell­te ein­mal fest: „Wäre die EU ein Staat, der die Auf­nah­me in die EU bean­tra­gen wür­de, müss­te der Antrag zurück­ge­wie­sen wer­den – aus Man­gel an demo­kra­ti­scher Sub­stanz.“ Aus­ge­rech­net der orwel­lia­nisch benann­te ‚Rechts­staats­me­cha­nis­mus‘ des EU-‚Coronagipfels‘ vom vor­ver­gan­ge­nen Wochen­en­de illus­triert das auf das Trefflichste.

In Arti­kel 22 und 23 heißt es in den ‚Schluss­fol­ge­run­gen‘ die­ses Gipfels:

22. Die finan­zi­el­len Inter­es­sen der Uni­on sind im Ein­klang mit den in den Ver­trä­gen der Uni­on ver­an­ker­ten all­ge­mei­nen Grund­sät­zen, und ins­be­son­de­re im Ein­klang mit den Wer­ten gemäß Arti­kel 2 EUV, zu schützen.

Der Euro­päi­sche Rat unter­streicht die Bedeu­tung, die dem Schutz der finan­zi­el­len Inter­es­sen der Uni­on zukommt. Der Euro­päi­sche Rat unter­streicht die Bedeu­tung, die der Ach­tung der Rechts­staat­lich­keit zukommt.

23. Vor die­sem Hin­ter­grund wird eine Kon­di­tio­na­li­täts­re­ge­lung zum Schutz des Haus­halts und von „Next Gene­ra­ti­on EU“ ein­ge­führt. In die­sem Zusam­men­hang wird die Kom­mis­si­on im Fall von Ver­stö­ßen Maß­nah­men vor­schla­gen, die vom Rat mit qua­li­fi­zier­ter Mehr­heit ange­nom­men werden.

Das ist alles eher dünn und wei­te­rer Aus­ge­stal­tung bedürf­tig. Klar ist jedoch, dass die Stoß­rich­tung gegen Polen und Ungarn geht, und die Pres­se sieht das uni­ver­sell so.

Kei­ne Orga­ne mit der Legi­ti­ma­ti­on, über die Recht­staat­lich­keit von Mit­glieds­staa­ten zu entscheiden

Nun sind eigent­lich weder die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on noch der Euro­päi­sche Rat Orga­ne mit einer Legi­ti­ma­ti­on, über die Recht­staat­lich­keit von Mit­glieds­staa­ten zu ent­schei­den, genau­so wenig wie das Bun­des­ka­bi­nett über Ver­fas­sungs­fra­gen deut­scher Bun­des­län­der zu ent­schei­den hat.

Zur Sicher­stel­lung recht­staat­li­cher Prin­zi­pi­en gibt es im Wesent­li­chen zwei all­ge­mein als legi­tim aner­kann­te Wege, die sich gegen­sei­tig ergänzen:

Zuvör­derst ist dies Auf­ga­be des Sou­ve­räns, also der Völ­ker der betrof­fe­nen Natio­nal­staa­ten. Die kön­nen sich durch Wah­len eine ande­re Zusam­men­set­zung der Gesetz­ge­bungs­or­ga­ne schaffen. 

Wei­ter­hin kann man Ver­fas­sungs­fra­gen einem Gericht vor­le­gen, nament­lich wenn sie vor­ran­gig juris­ti­scher und nicht poli­ti­scher Natur sind. In einem Bun­des­staat und begrenzt auch in einem Staa­ten­bund kann dafür auch ein Kata­log für meh­re­re Staa­ten ver­bind­li­cher Regeln und ein über­na­tio­na­les Gericht geschaf­fen wer­den. Die­se Art Gericht berührt unwei­ger­lich das Poli­ti­sche, aber sei­ne Legi­ti­mi­tät hängt wesent­lich davon ab, dass es als so unpo­li­tisch wie mög­lich und eben juris­tisch urtei­lend emp­fun­den wird. Die Unab­hän­gig­keit der Rich­ter und die Tren­nung von Ankla­ge, Ver­tei­di­gung und Rich­ter­amt sowie eine defi­nier­te Pro­zess­ord­nung sind dazu essen­ti­el­le Mindestvoraussetzungen.

Ver­höh­nung recht­staat­li­cher Prinzipien

Der in den Gip­fel-Schluss­fol­ge­run­gen vor­ge­schla­ge­ne Mecha­nis­mus ist eine Ver­höh­nung die­ser recht­staat­li­chen Prinzipien.

Die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on hat eine exe­ku­ti­ve Funk­ti­on und wird theo­re­tisch vom Euro­päi­schen Par­la­ment gewählt, in der Pra­xis durch die Nomi­nie­run­gen der Natio­nal­staa­ten bestimmt. Sie kann bereits, in einer für ein Exe­ku­tiv­or­gan ange­mes­se­nen Funk­ti­on als Klä­ger, Kla­ge beim Euro­päi­schen Gerichts­hof ein­rei­chen, aber nicht sel­ber über die­se Kla­ge rich­ten. Das soll nun offen­bar nicht mehr aus­rei­chen, denn da muss man den Inhalt der Kla­ge und ihre Recht­fer­ti­gung ja beweisen.

Der Euro­päi­sche Rat ist das Gre­mi­um der Regie­rungs­chefs der Mit­glieds­staa­ten. Die­se sind eben­falls kei­ne Rich­ter son­dern Exe­ku­tiv­or­ga­ne, und der poli­ti­sche und exe­ku­ti­ve Cha­rak­ter geht ihnen nicht dadurch ver­lo­ren, dass sie sich tref­fen und mit qua­li­fi­zier­ter Mehr­heit ent­schei­den. Die Mit­glie­der des Euro­päi­schen Rates gehen in der Regel aus Wahl­kämp­fen zwi­schen Par­tei­blö­cken in den Mit­glieds­staa­ten her­vor und sind oft­mals Anfüh­rer der sieg­rei­chen Par­tei­blö­cke, womit Unpar­tei­lich­keit gera­de nicht zu ihren Qua­li­fi­ka­tio­nen gehört. 

Es ist mit die­sem Vor­schlag, dass ein Gre­mi­um aus par­tei­po­li­tisch bestimm­ten Per­so­nen über die Recht­staat­lich­keit der Mit­glieds­na­tio­nen ent­schei­den sol­le, die poli­ti­sche Stoß­rich­tung auch schon vor­ge­ge­ben. Bei der gegen­wär­ti­gen Kon­stel­la­ti­on ist dabei klar, dass es gegen die der­zeit kon­ser­va­tiv regier­ten Län­der Polen und Ungarn gehen wird. Mit Sicher­heit nicht gehen wird es z.B. gegen die nicht min­der pro­ble­ma­ti­sche staat­li­che Ein­fluss­nah­me auf Pres­se, Funk und Fern­se­hen in Deutsch­land oder Vor­gän­ge wie die offen­kun­dig fak­ten­wid­ri­ge Fest­stel­lung der Beschluss­fä­hig­keit des Bun­des­ta­ges, nach­dem die­se von der größ­ten Oppo­si­ti­ons­frak­ti­on ange­zwei­felt wur­de. Sol­che Vor­gän­ge unter­stüt­zen ja die rich­ti­ge ‚Hal­tung‘, und wer­den damit garan­tiert nicht ver­folgt werden.

Die Unhei­li­ge Allianz

Der Ver­such eines Bünd­nis­ses, in dem die Staats- und Regie­rungs­chefs ins­be­son­de­re der gro­ßen und mäch­ti­gen Staa­ten zusam­men per­sön­lich die Recht­staat­lich­keit – im jeweils herr­schen­den Ver­ständ­nis – in den Natio­nen Euro­pas durch­set­zen, hat einen Vor­gän­ger: 1815 wur­de auf Betrei­ben ins­be­son­de­re des Zaren Alex­an­der die Hei­li­ge Alli­anz geschlos­sen, um die Staa­ten Euro­pas auf den Glei­sen von Chris­ten­tum und Legi­ti­mi­täts­prin­zip zu hal­ten. Ihr tra­ten die meis­ten euro­päi­schen Mon­ar­chen bei.

Der roman­ti­sche Gedan­ke Alex­an­ders, die Ver­hält­nis­se der Natio­nen durch christ­li­che Nächs­ten­lie­be und Ver­pflich­tung auf das Recht zu ord­nen, war durch­aus gut gemeint und weit­sich­tig bezüg­lich der Pro­ble­me, die Euro­pa in den nächs­ten zwei Jahr­hun­der­ten in Krie­ge stür­zen wür­den. Er war gleich­zei­tig aus­sichts­los und zer­brach spä­tes­tens bei der fran­zö­si­schen Inter­ven­ti­on gegen die Revo­lu­ti­on in Spa­ni­en 1821. Der genia­le, aber wie Met­ter­nich unbe­lieb­te, bri­ti­sche Außen­mi­nis­ter Cast­le­re­agh hat­te die Unmög­lich­keit des Pro­jekts der Hei­li­gen Alli­anz früh­zei­tig erkannt und statt­des­sen eine Poli­tik des Gleich­ge­wichts der Mäch­te ver­folgt – weni­ger visio­när, aber immer­hin umsetzbar.

Für die EU-Kom­mis­si­on und den Euro­päi­schen Rat als Klä­ger und gleich­zei­tig Rich­ter über die Recht­staat­lich­keit der Mit­glieds­na­tio­nen möch­te ich einen abge­wan­del­ten Namen vor­schla­gen: Nen­nen wir sie die Unhei­li­ge Allianz.