In der Antike war es üblich, vor politischen Entscheidungen eine Art Orakel zu befragen, ob ein Unternehmen dem Willen der Götter entspreche und Erfolg bringen werde. Bei den Römern gab es dazu die Auguren und die Haruspices, und anderswo ähnliche Funktionen. Die zunehmende Konsultation von Ethikräten, Ethikkommissionen usw. führt auf diese Praxis im neuen Gewand der behaupteten Wissenschaftlichkeit als Ersatz des Glaubens zurück.
Die Bundesregierung hat zur Einführung eines ‚Corona-Immunitätspasses‘ den Deutschen Ethikrat befragt. Nach Maßstäben traditioneller Rationalität wäre dafür eigentlich eher interessant, wie weit eine so zu attestierende Immunität überhaupt in der Bevölkerung verbreitet ist, eine Fragestellung, der sich die Bundesregierung von Anbeginn der Krise an verschlossen hat. Weiter wäre interessant, wie man damit umgehen will, dass ein solcher Ausweis für viele von den „Maßnahmen“ in ihrer Existenz Bedrohte ein Anreiz sein könnte, sich absichtlich anzustecken. Welchen Erkenntniszuwachs der Ethikrat liefern könnte, scheint mir unklar.
Gerade die Unklarheit des Erkenntnisziels macht vermutlich Ethikräte und ‑kommissionen so attraktiv für die Politik. Eigentlich ist politisches Handeln ja immer sittlichen Maßstäben verpflichtet, und es ist die Sittlichkeit des gewählten Politikers und insbesondere der laut Grundgesetz nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten, denen mittels demokratischer Legitimation die Entscheidung übertragen wurde. Eine Auslagerung des Gewissens auf Gremien ohne diese Legitimation schiebt die Verantwortung ab.
Mir scheint es auch, dass es zu sittlichem Handeln kaum praktisch anwendbares Expertenwissen gibt. Wohl gibt es Ethik als Richtung der Philosophie und der Theologie, aber Expertenwissen darin macht keinen Anstand. Überhaupt ist die Befähigung zu sittlichem Handeln wohl gleichmäßiger und gerechter unter den Menschen verteilt als beispielsweise kognitive Fähigkeiten. Von daher scheint mir ein Expertengremium für Sittlichkeit nur unzureichend fundiert, und es scheint mir unklar, ob es einen Grund gibt, anzunehmen, dass seine Entscheidungen besser sein werden als die der antiken Orakel. Eher verbessert werden sittliche Entscheidungen durch Verantwortung und Transparenz, und genau die werden durch die Auslagerung auf externe Gremien ohne demokratische Legitimation eher geschwächt.
Noch schwieriger erscheint es mir, Ethikexperten gerade da zu befragen, wo es sich um eine in der Sache schwierig zu durchdringende Materie handelt. Die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, beispielsweise, von der die Bundesregierung das Plazet für den Ausstieg aus der Kernenergie bestellt hat, hatte Politiker und Theologen und Soziologen und Gewerkschafter, aber nicht unbedingt Sachverstand in der Frage, wie ein Stromnetz funktioniert.
Es erscheint mir so, dass die Abschiebung von Diskussionen und Entscheidungen auf Ethikgremien wenig mit dem Wunsch nach sittlichem Handeln und viel mit der Flucht vor Verantwortung zu tun hat.
Zum Abschluss aber noch etwas Heiteres. Der Deutsche Ethikrat beschreibt seine Funktion auch in angeblich ‚Leichter Sprache‘, die mir im Vergleich zu normaler Sprache gar nicht so leicht scheint, sondern eher wie dadaistische Poesie. Wenn die Ausgangsbeschränkungen vorbei sind, machen Sie Sich doch einen Spaß und deklamieren das hier mit ernster Mine auf einem Poetry Slam, idealerweise nach hinreichender Alkoholisierung des Publikums:
Der Ethik-Rat beschäftigt sich mit vielen Fragen:
Was ist richtig und was ist falsch?
Wie leben wir in einer Gesellschaft zusammen?
Wie weit dürfen Wissenschaftler forschen?
Wo sind Grenzen?
Was dürfen Ärzte tun und was nicht?
Sind die Gesetze gut, die wir haben?
Oder brauchen wir andere Gesetze? […]Der Ethik-Rat schreibt jedes Jahr einen Bericht.
Deutscher Ethikrat: ‚Was sind die Aufgaben vom Deutschen Ethik-Rat?‘
Den Bericht bekommen der Bundes-Tag und die Bundes-Regierung.
In dem Bericht steht:
Das hat der Ethik-Rat gemacht.
Der Ethik-Rat hat sich um dieses Thema gekümmert.
So denkt und redet die Gesellschaft gerade über dieses Thema.