Beruf mit Zukunft: „Emp­find­lich­keits­le­ser“

Im Spie­gel for­dert ein Frau­en­quar­tett „diver­se“ Kin­der­bü­cher, mit Redak­ti­on durch „Emp­find­lich­keits­le­ser“ und schwar­zen Jun­gen, die als Meer­jung­frau­en auf „LGBTIQ-Meer­jung­frau­en­pa­ra­den“ gehen, als Cha­rak­te­re. Das Pro­gramm schei­tert an sei­nen eige­nen logi­schen Wider­sprü­chen und wird des­we­gen sei­ne For­de­run­gen nie befrie­digt sehen.

Der Spie­gel hat ein Inter­view mit vier Exper­tin­nen zu „Diver­si­tät in Kin­der­bü­chern“. Dar­in wird die Redak­ti­on – fast wäre mir ein ande­res Wort ein­ge­fal­len – von Kin­der­bü­chern durch „sen­si­ti­vi­ty rea­ders“ gefor­dert, damit sie hin­rei­chend „divers“ wer­den und „Child­ren of Color“ nebst „quee­ren“ Kin­der­bü­chern in die Bücher­schrän­ke kommen.

Nun lohnt sich immer, wenn jemand mit schwur­be­lig klin­gen­den fremd­spra­chi­gen Wör­tern kommt, die Fra­ge, ob es sich da wirk­lich um im Deut­schen nicht abbild­ba­re Bedeu­tungs­nu­an­cen han­delt, und wie die Sache klingt, wenn man das fremd­spra­chi­ge Wort ein­mal ins Deut­sche über­trägt. Es sol­len also ‚Emp­find­lich­keits­le­ser‘ her. Ich sehe nicht, wel­che Funk­ti­on außer der Ver­de­ckung des Sach­ver­halts und des Vor­täu­schens von Bil­dung da der eng­li­sche Begriff haben soll­te. (Im Gegen­satz dazu ist die ‚Sen­si­ti­vi­tät‘ z.B. eines Virus­tests ein sinn­vol­les Fremd­wort, denn sie bezeich­net zwar die Emp­find­lich­keit, aber in einer gegen­über die­sem All­tags­wort ver­eng­ten und spe­zi­fi­schen Bedeu­tung, die für das Fach­pu­bli­kum wich­tig ist.)

Der Beruf besteht dar­in, über­all schlimms­te Dis­kri­mi­nie­rung zu sehen

Was muss also ein Emp­find­lich­keits­le­ser machen? Nun, das Wort sagt es, lesen und emp­find­lich sein, je emp­find­li­cher des­to bes­ser. Wer regel­mä­ßig einem Kin­der­buch attes­tiert, dass dar­in nichts Ras­sis­ti­sches und auch sonst kei­ne grup­pen­be­zo­ge­ne Men­schen­feind­lich­keit zu fin­den sei­en, der wird es in dem Job nicht lan­ge machen, denn die Auf­trag­ge­ber wer­den schnell mer­ken, dass eigent­lich gar kein kos­ten­pflich­tig zu lösen­des Pro­blem besteht. Der Beruf besteht also ganz zwangs­läu­fig dar­in, über­all schlimms­te Dis­kri­mi­nie­rung zu sehen.

Die­se Dis­kri­mi­nie­rung ist dabei unab­hän­gig vom Inhalt. Eine Beschwer­de in dem Arti­kel ist: „Lei­der wer­den in Mär­chen oder Prin­zes­sin­nen­ge­schich­ten nie oder nur sehr sel­ten Child­ren of Color in die Haupt­rol­le genom­men.“ Nun wer­den aber mei­nes Wis­sens in den meis­ten Mär­chen die Dar­stel­ler gar nicht expli­zit mit einer Haut­far­be oder Ras­se­zu­ge­hö­rig­keit ein­ge­führt. Wenn man die von den Gebrü­dern Grimm gesam­mel­ten Mär­chen Kin­dern in Zen­tral­afri­ka in Über­set­zung vor­liest und dabei nicht expli­zit erwähnt, dass es sich um euro­päi­sche Geschich­ten han­delt, dann wer­den die Kin­der sich die Akteu­re ver­mut­lich schwarz vor­stel­len. Wenn man ohne Erwäh­nung ihrer Her­kunft afri­ka­ni­sche Kin­der­ge­schich­ten in Deutsch­land vor­liest, dann wer­den sich die Zuhö­rer die Akteu­re weiß vor­stel­len. Das ist auch völ­lig nor­mal, denn die meis­ten Kin­der­ge­schich­te han­deln nicht von Ras­se­fra­gen irgend­wel­cher Art, son­dern von uni­ver­sel­le­ren Pro­ble­men der mensch­li­chen Exis­tenz. Reli­giö­se Geschich­ten übri­gens auch. Natür­lich stel­len sich die Leu­te die Engel der volks­tüm­li­chen Dar­stel­lung als so aus­se­hend vor, wie sie sel­ber aus­se­hen, übri­gens auch in Bezug auf Kör­per­pfle­ge- und Klei­dungs­mo­den ihrer Epoche.

Die meis­ten Kin­der sind nicht so ver­peilt wie ihre emp­find­lich­keits­le­sen­den Eltern

Dass in deut­schen „Mär­chen oder Prin­zes­sin­nen­ge­schich­ten nie oder nur sehr sel­ten Child­ren of Color in die Haupt­rol­le genom­men“ wer­den, wür­de sich logi­scher­wei­se auch dann nicht ändern, wenn man frag­wür­di­ger­wei­se in Zukunft allen Cha­rak­te­ren in sol­chen Geschich­ten eine Ras­se samt Ahnen­pass zuschrei­ben wür­de und die­se Ras­sen dann nach Bevöl­ke­rungs­pro­porz ver­tei­len wür­de. Die über­wie­gen­de Mehr­heit der Deut­schen ist nicht schwarz. Das­sel­be gilt auch für ande­re Cha­rak­te­ris­ti­ka von Min­der­hei­ten, denn sonst wären es ja kei­ne. Die meis­ten Deut­schen sind auch nicht trans­se­xu­ell, nicht homo­se­xu­ell und schon gar nicht behin­dert, denn andern­falls wür­de die ent­spre­chen­de Beschrän­kung eben als nor­mal und nicht als Behin­de­rung gelten.(Beispielsweise ist es eine Behin­de­rung, kei­ne hun­dert Meter lau­fen zu kön­nen, wohin­ge­gen es nicht als Behin­de­rung gilt, das nicht in unter zehn Sekun­den tun zu kön­nen – da ist die Fähig­keit die erwäh­nens­wer­te Aus­nah­me und nicht ihr Mangel.)

Eine der inter­view­ten Damen in dem Arti­kel meint: „In mei­nen Kin­der­bü­chern kamen lau­ter wei­ße Prin­zes­sin­nen vor, ich dach­te also nicht, dass ich eine sein könn­te. Und selbst sehr jun­ge Child­ren of Color sehen es nicht als Selbst­ver­ständ­lich­keit an, dass sie in Büchern abge­bil­det sind.“

Dar­auf gibt es im Grun­de drei plau­si­ble Ant­wor­ten. Ers­tens könn­te man spe­zi­el­le Kin­der­bü­cher für Ange­hö­ri­ge beson­ders emp­find­li­cher Min­der­hei­ten haben, in denen dann die Geschich­ten von den Emp­find­lich­keits­le­sern für die­se jewei­li­ge Min­der­heit auf­ge­motzt wür­den, z.B. indem regel­mä­ßig dar­auf hin­ge­wie­sen wür­de, dass die Prin­zes­sin schwarz sei. Das könn­te man belie­big weit aus­dif­fe­ren­zie­ren, mit Son­der­aus­ga­ben für trans- und homo­se­xu­el­le nicht­bi­nä­re schwar­ze Prin­zes­sin­nen usw. Zwei­tens könn­te man, wenn Kin­der wirk­lich so dar­auf ange­wie­sen wären, dass sie ihre Haut­far­be in Kin­der­bü­chern und Rol­len­vor­bil­dern wie­der­fin­den, an der Trag­fä­hig­keit von Zuwan­de­rung mit im Ziel­land sel­te­nen Haut­far­ben zwei­feln, denn dass ihre Haut­far­be eine Min­der­heit ist wer­den sie auch mit sol­chen Son­der­aus­ga­ben mer­ken, gera­de dann. Und drit­tens könn­te man es auch ein­fach ein­mal damit ver­su­chen, dass die meis­ten Kin­der nicht so ver­peilt sind wie ihre emp­find­lich­keits­le­sen­den Eltern und sich durch­aus in einer Figur einer Geschich­te wie­der­fin­den könn­ten, die gar nicht so aus­sieht wie sie sel­ber, sogar in einem Fabel­we­sen. Das schie­ne mir eigent­lich die ver­nünf­tigs­te Lösung.

Der schwar­ze Jun­ge, der eine LGBTIQ-Meer­jung­frau sein wollte

1998 Coney Island Mer­maid Para­de. Bild: Ken­neth C. Zir­kel.

Wir bekom­men auch einen Vor­ge­schmack dar­auf, wie die emp­find­lich­keits­re­di­gier­ten Kin­der­bü­cher der Zukunft aus­se­hen könnten:

Hier­bei schreibt Love, eine wei­ße Autorin, über einen klei­nen Schwar­zen Jun­gen, der eine Meer­jung­frau sein möch­te und von der Groß­mutter bei die­sem Traum unter­stützt wird, indem sie gemein­sam zu einer LGBTIQ-Meer­jung­frau­en­pa­ra­de gehen. Die­se Geschich­te wird mit weni­gen Wor­ten, dafür aber mit sehr zärt­lich gemal­ten Bil­dern erzählt. Das sind die­se ganz beson­de­ren Bücher, die natür­lich zau­ber­haft sind, aber an einer Hand abzählbar.

Olga Fel­ker, ‚Von Schwar­zen Prin­zes­sin­nen und männ­li­chen Meer­jung­frau­en‘, Spie­gel, 06.09.2020

Ich hege den star­ken Ver­dacht, dass sol­che Geschich­ten an einer Hand abzähl­bar blei­ben werden.

Wenn man die­se Geschich­te als in der Rea­li­tät ange­sie­delt und nicht als Mär­chen betrach­tet, dann fällt einem im Übri­gen auch schnell auf, dass es nicht beson­ders vie­le Meer­jung­frau­en­pa­ra­den gibt (mir fällt eigent­lich nur die auf Coney Island ein), dass die meis­ten der Meer­jung­frau­en da leicht beklei­de­te jun­ge Damen sind und kei­ne von der Fami­lie als LGBTIQ dekla­rier­ten Kin­der, dass sie auch über­wie­gend weiß sind, und dass des­halb der schwar­ze Jun­ge mit unge­klär­ter Geschlechts- und sexu­el­ler Iden­ti­tät und dem Wunsch, eine Meer­jung­frau zu sein, da viel­leicht nicht wirk­lich sei­ne neue Hei­mat fin­den wird.

Inso­fern reflek­tiert die Geschich­te viel­leicht das ver­brei­te­te Miss­ver­ständ­nis, man kön­ne Pro­ble­me der Iden­ti­täts­fin­dung durch eine rich­tig abge­dreh­te Kos­tüm­pa­ra­de lösen, wäh­rend eigent­lich die kar­ne­val­eske Kos­tüm­pa­ra­de ja genau das Gegen­teil ist, ein kurz­fris­ti­ges Ent­flie­hen aus der eige­nen Iden­ti­tät, in die man danach aber wie­der zurück­fin­den muss. Die klas­si­schen Geschich­ten vom Erwach­sen­wer­den han­deln eigent­lich, und inter­es­san­ter, eher vom Able­gen der Ver­klei­dung und dem Fin­den der eige­nen Identität.

Sol­len jetzt beson­ders ‚wokē‘ Autoren schwar­ze Prin­zes­si­nen in ihre Geschich­ten schrei­ben oder es lassen?

Die Sache wird noch schwie­ri­ger, indem dann auch noch gefor­dert wird, „nach Büchern zu schau­en, in denen Child­ren of Color ganz selbst­ver­ständ­lich vor­kom­men und in denen kein Othe­ring statt­fin­det.“ Man kann aber ganz logi­scher­wei­se sich nicht gleich­zei­tig beschwe­ren, dass eben z.B. Haut­far­be in den meis­ten Kin­der­ge­schich­ten kei­ne Rol­le spielt und des­we­gen auch nicht erwähnt wird, sich aber gleich­zei­tig auch über die Alter­na­ti­ve beschwe­ren, dass Cha­rak­te­re mit einer Eigen­schaft wie einer unge­wöhn­li­chen Haut­far­be ein­ge­führt wer­den, und das dann ‚Othe­ring‘, zu Deutsch sagen wir ein­mal ‚Andern‘, nennen.

Man kann im Übri­gen auch nicht gleich­zei­tig mehr schwar­ze Prin­zes­sin­nen und Meer­jung­frau­en for­dern und gleich­zei­tig meckern, dass „die Ver­nied­li­chung aus Gen­der­per­spek­ti­ve pro­ble­ma­tisch“ sei. Sol­len jetzt beson­ders ‚wokē‘ Autoren, um das Neu­sprech auch ein­mal zu bemü­hen, schwar­ze Prin­zes­si­nen in ihre Geschich­ten schrei­ben oder es las­sen? (Ich erlau­be mir, für den Plu­ral oder die weib­li­che Form die Aus­spra­che mit gespro­che­nem ‚e‘ am Ende vor­zu­schla­gen und dafür die Schreib­wei­se mit ‚ē‘ ein­zu­füh­ren, als klei­nen Bei­trag zur deut­schen ‚Woke­ness‘.)

Das Pro­gramm wird nie fer­tig wer­den, nie auch nur nen­nens­wer­te Fort­schrit­te ver­mel­den kön­nen, und des­halb nach der Logik gewis­ser Men­schen immer gebraucht werden

Das gan­ze Pro­gramm des emp­find­lich­keits­re­di­gier­ten Kin­der­buchs scheint mir zum Schei­tern ver­ur­teilt, denn es lei­det an inne­ren Wider­sprü­chen, die es völ­lig unmög­lich machen, sei­ne For­de­run­gen zu befrie­di­gen. Man kann ein­fach nicht ein Cha­rak­te­ris­ti­kum, mit dem man sich in der Min­der­heit befin­det, zum Grund­pfei­ler sei­ner Iden­ti­tät machen, und sich gleich­zei­tig beschwe­ren, dass es einen furcht­bar trau­rig und wütend mache, mit sei­ner Iden­ti­tät dann in der Min­der­heit zu sein. Irgend­wann wird man ler­nen müs­sen, ent­we­der sei­nen Min­der­hei­ten­sta­tus zu akzep­tie­ren oder sei­ne Iden­ti­tät an etwas fest­zu­ma­chen, mit dem man in der Mehr­heit ist – die Nati­on wäre da ein mög­li­ches Ange­bot, denn meis­tens ist man von Men­schen der eige­nen Natio­na­li­tät umge­ben, auch wenn die anders aus­se­hen mögen als man sel­ber, und wenn nicht, dann gibt es meis­tens Wege, nach Wunsch ent­we­der die eige­ne Natio­na­li­tät oder den Auf­ent­halts­ort zu ändern.

Gera­de weil das vom ‚Emp­find­lich­keits­le­ser‘ umzu­set­zen­de Pro­gramm unmög­lich ist, könn­te das Berufs­bild aller­dings Zukunft haben, denn es wird nie fer­tig wer­den, nie auch nur nen­nens­wer­te Fort­schrit­te ver­mel­den kön­nen, und des­halb nach der Logik gewis­ser Men­schen immer gebraucht wer­den. Wäre das nicht eine inter­es­san­te beruf­li­che Per­spek­ti­ve, viel­leicht sogar mit eige­nem Stu­di­en­gang? Man braucht dazu eigent­lich nicht viel mehr zu kön­nen, als ein paar eng­li­sche Wort­bro­cken als Wurf­ge­schos­se in sei­ne Umwelt zu schleudern.