In der Psychologie gibt es ja den bekannten Rorschach-Test, bei dem der Proband eigentlich bedeutungslose Tintenkleckse gezeigt bekommt, in die er etwas hineininterpretieren soll, was dann wiederum vom Testenden tiefenpsychologisch interpretiert wird. Die Aussagekraft dieses Verfahrens ist umstritten und fraglich, aber in der Politik gibt es eine viel aussagekräftigere, weil nicht auf Muster ohne eigene Bedeutung aufgebaute, Methode: Welche Wörter lässt sich ein Politiker für einen Sachverhalt einfallen? Das sieht man dann bisweilen schon, wie es in ihm so denkt.
„Seuchenpolicey“
Ein wunderbares Beispiel dafür findet sich im Wunsch der Bundesregierung, in Infektionsgebieten „Ausreiseverbote“ verhängen zu können. Dabei muss man fairerweise sagen, dass dieses Wort zwar in fast allen darüber berichtenden Medien unabhängig von der politischen Ausrichtung verwendet wird, aber nicht als Zitat im Zusammenhang einem Politiker zugeschrieben wird. Es wäre also auch denkbar, dass das Wort gar nicht zuerst von der Regierung benutzt wurde, sondern beispielsweise von der Bild-Zeitung, die wohl als erste darüber berichtet hat. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das Wort benutzt wurde. Sollte das nicht der Fall sein, dann hätten wir ein Beispiel dafür, was passiert wenn die eine Tageszeitung lediglich von der anderen abschreibt, ohne eigene Fragen zu stellen. (Als Blogger bin ich nicht für die Berichterstattung zuständig und würde wohl auch kaum eine besondere Priorität bei der Beantwortung von Fragen durch das Kanzleramt, das die fragliche Konferenz geleitet hat, bekommen.)
Über die Sache selber kann man im Grunde durchaus reden. Es sollen bei schweren, regional begrenzten Krankheitsausbrüchen die Bewohner des entsprechenden Gebiets darin eingesperrt werden. Das ist hart, aber im Grunde soweit noch normale Seuchenbekämpfungsstrategie noch aus Zeiten, in denen so etwas der „Policeywissenschaft“ zugerechnet wurde. Das Risiko, dass jemand jemanden ansteckt, der dann wieder jemanden ansteckt, der dann wieder jemanden ansteckt, können die liberale Gesellschaft und die Märkte in der Tat nicht regeln. Gleichzeitig wäre eine solche Maßnahme an den Grenzen des Rechtstaats, sowohl durch die Grundrechtseingriffe überhaupt, wie auch durch die willkürliche Ziehung einer Grenze, diesseits derer man nicht vor der Seuche fliehen darf, jenseits ihrer aber schon, und damit möglicherweise einen willkürlichen Eingriff in das Recht auf Leben selbst. Da wären im modernen Staat doch einige Fragen zu beantworten. Eine allerhöchste Verfügung bezüglich der „Seuchenpolicey“ wird es jedenfalls nicht tun, und irgendeine Art der gerichtlichen Überprüfung des Verwaltungshandelns wird schwer vermeidbar sein.
Konstitutiv für die Existenz des ganzen Unrechtstaats
Aber die Sache selber wollen wir einmal beiseite lassen. Was um alles in der der Welt muss einen gepackt haben, dass man im (hoffentlich vorhandene) Bewusstsein der deutschen Geschichte das Wort „Ausreiseverbot“ leicht in den Mund nimmt? Am 18. Oktober 1941 erließ Heinrich Himmler ein Ausreiseverbot gegen Juden, hatte also offensichtlich spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluss gefasst, die Juden im Machtbereich der Nazis zu ermorden, denn vor diesem Entschluss war die Ausreise unter Zurücklassung des Vermögens ja das gewesen, was die Nazis wollten. Bei der DDR war das Ausreiseverbot zwar nicht konstitutiv für Masenmord, dafür aber für die Existenz des ganzen Unrechtstaates. Sobald das Ausreiseverbot nicht mehr gehalten werden konnte, war sie nicht mehr existenzfähig, existiere auch kein Jahr mehr.
Nachdem zwei der prägenden Verbrechen der jüngeren deutschen Geschichte sich auf Ausreiseverbote stützten, ist die Wahl dieses Begriffs für eine seuchenpolizeiliche Maßnahme mindestens überraschend. Man könnte ja auch beispielsweise von ‚Quarantäne‘ sprechen, die zwar auch nicht schön ist, aber von der Bevölkerung doch eher mit der Bekämpfung von Seuchen als mit dem Schießbefehl zwecks Diktaturerhalt in Verbindung gebracht wird. Bei der Quarantäne liegt immerhin im Wort selber noch eine Begrenzung der Dauer auf die damals üblichen vierzig Tage, während Ausreiseverbote eine Tendenz zur längeren Dauer zu haben pflegen.
Ich will deshalb, sicher nicht weniger spekulativ als die Auswertungen von Rorschach-Tests, einmal diese Wortassoziation interpretieren: machtbesoffener Narzisst.