Terrorismus ist nach dem Terror, also dem Schrecken, benannt, seiner Strategie. Zahlenblinde absurde Überschätzungen der Fähigkeiten von Terroristen verbreiten unbegründeten Schrecken, erledigen also unabsichtlich das Geschäft der Terroristen. Eine Pressemitteilung, die Zahlen aus dem Rizinprozess von Köln aufgreift, gibt dafür ein gutes, oder vielmehr ein schlechtes Beispiel.
An den Zahlen der heutigen Pressemitteilung ist nichts neu. Sie greift Angaben aus dem Prozess auf. In der Urteilsverkündung im März soll der Richter erklärt haben, die „Menge an Rizinus-Samen hätte rechnerisch für potenziell 13 500 Tote genügt.“ Die Verwendung der Wörter „rechnerisch“ und „potenziell“ in einem Satz legt es schon nahe – die Zahlen haben keinerlei Bedeutung. Als Schätzung tatsächlicher Opferzahlen wurde dann angegeben, dass „durch die Verbreitung mit einer Streubombe […] 200 Menschen oder weniger getötet worden“ wären. Einmal davon abgesehen, dass es einem eher minderbemittelten Terroristen ziemlich sicher nicht gelingen wird, eine Streubombe zu bauen und zum Einsatz zu bringen, und wohl eher eine Splitterbombe gemeint war, kündigt das „oder weniger“ auch schon wieder ziemlich offen eine völlig übertriebene Zahl an.
Die genannte „rechnerische“ Opferzahl ist ein vollkommen unmögliches Szenario
Bei dem Täter sollen 3,150 Samen des Wunderbaums gefunden worden sein, aus denen er 85 Milligramm Rizin tatsächlich extrahiert hatte. Wenn man den stark schwankenden Gehalt auf 2 mg pro Samen ansetzt, dann hätte er bei einer Effizienz von zwei Dritteln 4 Gramm Rizin extrahieren können – tatsächlich in Anbetracht der viel geringeren gefundenen Menge wohl eher deutlich weniger, aber die Menge der bereits verbrauchten Samen wurde nicht genannt, rechnen wir also mit 4 Gramm.
Könnte ein Terrorist jetzt diese vier Gramm gleichmässig durch Injektion direkt in die Körper der Opfer einführen, dann wäre die zu erwartende Opferzahl in der Tat sehr hoch. Tierversuche kommen auf eine intravenöse LD50, also die Dosis, bei der die Hälfte der Opfer verstirbt, von rund 0.002 mg/kg Körpergewicht, also bei 70 kg Durchschnittsgewicht der Opfer genug für 28.500 Injektionen und 14.250 Opfer. Diese Rechnung entspricht ziemlich genau den vom Gericht genannten 13.500, die wohl mit genau diesem Rechenweg zustandegekommen sind. Das setzt aber voraus, dass der Täter zehntausende Menschen hätte festhalten und jedem von ihnen eine intravenöse Giftinjektion hätte verpassen können. Weiter setzt es voraus, dass sie auch danach keine medizinische Behandlung erhalten hätten. Das wiederum setzt eine Armee von Dutzenden Dr. Mengeles voraus, und wer die hat, der braucht sich nicht mit der Rizinextraktion aufzuhalten.
Die genannte „rechnerische“ Opferzahl ist also ein vollkommen unmögliches Szenario, und die Zahl ist deshalb schlichtweg Quatsch und Panikmache. Das Gleiche gilt übrigens, wenn Ihnen jemand erzählt, wie viele Menschen ein Gramm Plutonium töten könne und so weiter – könnte es vielleicht schon, wenn man es den Opfern säuberlich in Einzeldosen aufgeteilt intravenös spritzen würde.
Erster Weltkrieg: Eine Tonne Kampfstoff pro Totem
Ich will Ihnen nicht einen unappetitlichen Rechenweg samt Ideen für einen aus Sicht des Täters optimalen Einsatz der von diesem Terroristen geplanten Bombe zumuten, aber ich komme auf vielleicht zehn Tote, die durch die Giftwirkung realistisch wären, und selbst das setzt vermutlich weitaus mehr Intelligenz und mathematische und technische Kenntnisse beim Täter voraus als vorhanden waren. Ein Teil dieser Toten würde möglicherweise auch ohnehin schon durch die Sprengwirkung getötet, so dass die Wirkung des vom Gericht und in den Medien besonders beachteten Rizins noch geringer wäre. Gesteigert würde die Opferzahl allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit wieder durch Panikreaktionen.
Diese Schätzung kann man durch einen einfachen Vergleich unterfüttern: Im Ersten Weltkrieg kamen rund 120.000 Tonnen (!) chemischer Kampfstoffe zum Einsatz, die rund 100.000 Tote forderten. Manche dieser Kampfstoffe waren pro Menge viel weniger giftig als Rizin, manche wurden mehr als Sperrfeuer denn gegen Ansammlungen von Personen verschossen, manche verfehlten ihr Ziel, viele Soldaten hatten während des späteren Kriegsverlaufs Schutzausrüstung; aber andererseits wurden die verwendeten Granaten von Ingenieuren konstruiert, die wussten, was sie taten, Zugang zu geeigneten Sprengstoffen und Konstruktionstechniken hatten, und die Kriegsparteien lernten aus Erfahrung. Mit all diesen Faktoren, die den Ersten Weltkrieg natürlich anders machen als einen Terroranschlag, wurde rund eine Tonne Kampfstoff pro Totem verschossen. Es ist schlichtweg nicht plausibel, dass mit einer unerprobten Selbstbaubombe gegen eine größere Zahl von Menschen eine Wirkung von Milligramm Kampfstoff pro Totem erreicht würde.
Verweigern wir dem Terroristen das, was er am meisten will: Unsere Angst
Terrorismus, kommt, wir haben damit unsere Betrachtung angefangen, vom Terror, dem Schrecken. Wenn wir uns nicht von vollkommen absurden Schreckensszenarien ins Bockshorn jagen lassen, dann verweigern wir dem Terroristen das, was er am meisten will: Unsere irrationale Angst. Gleichzeitig vermeiden wir es, aus Angst in den Ruf nach dem unbegrenzten Staat zu verfallen, und können uns daran erinnern, dass Massentötungen in den von der Presse zirkulierten Größenordnungen bisher fast immer das Resultat staatlichen Handelns, nicht von einzelnen Spinnern waren.