Wie jeden ersten Dienstag am oder nach dem zweiten November war gestern in Amerika Wahltag. Die bedeutendste der anstehenden Wahlen war die zum Gouverneur von Virginia, einem Staat, den die Demokratische Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2020 haushoch gewonnen hat, und von dem man oft annimmt, dass er durch die bevölkerungsreichen immer linksliberaleren Landkreise in der Nähe von Washington, D.C., die Staatshauptstadt Richmond und Norfolk immer weniger zum ‚festen Süden,‘ der traditionell konservativ gewählt hat, zählen könne. Als sich in den Umfragen im Vorfeld der Wahl andeutete, dass der republikanische Kandidat Glenn Youngkin überraschend gut in den Umfragen dastand und sich Hoffnungen auf den Sieg machen konnte, bekam diese Wahl eine über den Einzelstaat hinausgehende Bedeutung, die als Zahltag für die Demokratische Partei und Präsident Biden interpretiert wurde. Dieser Zahltag ist nun eingetroffen.
Referendum über Biden und Kulturkampf
Wenn man sich die vergiftete politische Atmosphäre in Amerika und der westlichen Welt überhaupt einmal wegdenkt, dann war es eigentlich ein Wahlkampf zwischen zwei sympathisch wirkenden Männern, die in den Brot-und-Butter-Themen der täglichen Politik so weit nicht auseinanderliegen. Der Republikaner Youngkin war als Student Basketballspieler, ist zwei Meter groß, hat einen Master-Abschluss von Harvard und machte dann eine sehr erfolgreiche Karriere im Investmentmanagement. Er gibt sich leutselig und anpackend, mit offenem Hemd und Fleecejacke zu Cowboystiefeln. Der Kandidat der Demokraten, Terry McAuliffe, ist dagegen ein Karrierepolitiker und Politikunternehmer, der direkt nach dem Studium mit zweiundzwanzig Schatzmeister von Jimmy Carters gescheitertem Wahlkampf für eine zweite Amtszeit und seitdem in der Politik war, allerdings auch einen Abschluss in Jura machte und als Unternehmer reüssierte. Er war bereits 2014 bis 2018 Gouverneur, und erklärt offen, dass sein geschäftlicher und sein politischer Erfolg verknüpft seien. Virginias Verfassung verbietet aufeinanderfolgende Amtszeiten desselben Gouverneurs, weswegen er sich 2017 nicht zur Wahl stellen durfte und sein Nachfolger Ralph Northam es dieses Jahr nicht darf.
Es hätte eigentlich ein Wahlkampf um solche Themen werden können, wie genau man die Schulen finanziell besser ausstatten könne, was beide Kandidaten auf unterschiedlichen Wegen wollen, wie man die zeitraubende und nervtötende Bürokratie der Führerschein- und Zulassungsstellen entschlacken könnte, wer die Schlaglöcher besser reparieren kann, die Regelung der Mehrwertsteuer, usw. In diesen unideologischen Fragestellungen ist der ehemalige Gouverneur McAuliffe eher ein Repräsentant von Kontinuität, während sich der Seiteneinsteiger Youngkin als Kandidat eines frischen Windes für diejenigen, die meinen, dass es besser werden könnte, positionierte. Aus einem solchen sachbezogenen Wahlkampf wurde aber nichts. Stattdessen wurde der Wahlkampf von seiner Interpretation als Referendum über Präsident Biden und von kulturkämpferischen Themen bestimmt, bei denen sich Biden und Wokeness nicht als Gewinner erwiesen haben.
Trump-Bezug als Verzweiflungslüge
Fangen wir mit dem Referendum über Biden und Trump an. Während des Nominierungswahlkampfs, zeitlich näher an den Kontroversen um die Umstände der letzten Präsidentenwahl, hat Youngkin vorsichtig die Klaviatur des Verdachts über diese Umstände bespielt, ist davon nach seiner Nominierung allerdings abgerückt und hat jedenfalls das Ergebnis in seiner Gesamtheit akzeptiert, wenn auch mit dem Wunsch nach Verbesserungen und weniger Unregelmäßigkeiten in der Auszählung. Während Präsident Bidens Stern am Sinken ist, ist Donald Trump in Virginia immer noch weniger beliebt als Biden, und Youngkin war gut beraten, seine Kandidatur nicht zu sehr mit dem ehemaligen Präsidenten zu verknüpfen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass McAuliffe zu seiner Wahlkampfabschlusskundgebung seinen Konkurrenten Youngkin mit einer glatten Lüge mit Präsident Trump in Verbindung zu bringen versuchte. Er sagte zu seinen Anhängern: „Ratet mal, wie Glenn Youngkin seinen Wahlkampf abschließt? Er macht eine Veranstaltung mit Donald Trump hier in Virginia.“ Das roch nach Verzweiflung, denn eine solche Veranstaltung gab es nicht, sie hat nie stattgefunden und sie war nie geplant. Tatsächlich hat Youngkin einen bewusst hemdsärmeligen Wahlkampfabschluss auf dem Festplatz eines Landkreises veranstaltet, bei dem mit einem Gebet angefangen wurde und Youngkin zu Themen wie Bildung und der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sprach.
Verschwörungstheorie wie im Hexenprozess
Während Youngkin sich zwar von Trump, wie von zahllosen anderen Prominenten, eine Wahlempfehlung hat geben lassen und Trump auch in einigen kurzen Botschaften über die Medien Youngkin zur Wahl empfohlen hat, ohne aber mit ihm aufzutreten, hat McAuliffe tatsächlich mit ‚seinem‘ Präsidenten Wahlkampf gemacht und ist zusammen mit Joe Biden aufgetreten. Auch hier wirkte die Verbindung zwischen Youngkin und Trump, die Präsident Biden kommunizieren wollte, sehr künstlich. „Extremismus ist in vielen Formen aufgetreten,“ sagte er. „Er kann mit einem Lächeln und einer Fleeceweste auftreten.“ Das ist keine sehr logische Verbindung.
Noch unlogischer wurde es, als Biden fragte, was Youngkin „verstecken“ wolle, indem er Trump nicht zu gemeinsamen Veranstaltungen einlade. Eine Rede, deren Kern sein sollte, dass Youngkin wie Trump sei, und dann als ihr zentrales Argument hatte, dass die beiden nicht zusammen auftreten und Youngkin sich sportlicher anzieht als Trump, ist kaum geeignet, Unentschlossene zu überzeugen. Als letztes Argument blieb Biden nur noch die Verschwörungstheorie: „Terry [McAuliffe]s Gegner hat Donald Trump all diese geheimen Treueversprechen gegeben,“ die er öffentlich nicht wiederholen wolle. Mit diesem Argument ohne jeden Beweis und ob Trumps Alter und Ämterlosigkeit ohne jede Plausibilität kann man auch einen Hexenprozess führen, setzt man nur den Teufel anstelle Trumps ein, was in der Gedankenwelt vieler Besucher der Kundgebung wohl eh ein und dieselbe Person sein dürfte.
„Let’s Go Brandon“
Der Wahlkampf Youngkins konnte dann leicht auf diese ins Lächerliche gehenden Gleichsetzungen Trumps mit seiner Person antworten, unter anderem mit einem Werbespot, der nichts zeigt als McAuliffe, der unentwegt wie eine Aufziehpuppe „Donald Trump, Donald Trump, Trump, Trump, Donald Trump“ sagt, zusammengeschnitten aus seinen Reden, in denen er zeitweise auf einen Trump pro Minute kam. Donald Trump aber ist bereits abgewählt, und wer seine Unzufriedenheit mit ihm zum Ausdruck bringen wollte, der hat das schon vor einem Jahr getan, mit Erfolg.
Gleichzeitig hat sich McAuliffe mit der Verknüpfung seiner Person mit Präsident Biden keinen Gefallen getan. Die Zustimmungswerte des Letzteren rutschen nämlich in den Keller ob seines unglücklichen Lavierens durch das Debakel von Kabul, zunehmende Inflation, Impfpflichten, gleichzeitig offene Stellen und Arbeitslosigkeit, ungeregelte Einwanderung, Gewaltkriminalität. Ganze 71% der Amerikaner sagen in Umfragen, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Kein Präsident außer Donald Trump und Gerald Ford war zu diesem Zeitpunkt seiner Amtszeit unbeliebter als Präsident Biden es ist, seit Anfang der Umfragen 1945. Auf Sportveranstaltungen hört man die Rufe „Let’s Go Brandon“ als Verklausulierung von „F*ck Joe Biden“ und gleich zwei Rapper hatten Erfolg mit der musikalischen Verwurstung dieses Rufes. Eine ungeeignetere Gallionsfigur als den glücklosen und öffentlich mit Unflätigkeiten verschmähten Präsidenten hätte sich McAuliffe nicht aussuchen können.
‚Kritische Rassetheorie‘ als Tugendterror
Außer dieser von McAuliffe selbstschädigend hergestellten Personenverknüpfung der Gouverneurswahl mit einem Referendum über den ehemaligen und den gegenwärtigen Präsidenten, was dar andere wesentliche kulturkämpferische Thema des Wahlkampfs die sogenannte ‚kritische Rassetheorie‘, und die Frage, ob sie in den Schulen des Bundesstaats unterrichtet werden solle.
Der Wahlkampf der Demokraten hat dieses Thema damit unter den Tisch zu kehren versucht, dass ‚kritische Rassetheorie‘ vielleicht an Graduiertenkursen juristischer und humanistischer Universitätsfakultäten unterrichtet werde, aber nicht an Grund- und Mittelschulen. Wörtlich genommen stimmt das natürlich. Es wird sicher nicht an Grundschulen mit Marx, Horkheimer, Marcuse und Foucault angefangen und von da aus dann Kimberlé Crenshaw, Mari Matsuda und Ibram X. Kendi weitergelesen. Das geht aber am Grund des Anstoßes vorbei.
Die Leute stören sich nicht an (pseudo)akademischen Essays, die keiner liest, sondern sie stören sich an einer zunehmenden Rassehetze und an einem mit ihr verbundenen Tugendterror, insbesondere an dem Umstand, dass damit immer jüngeren Schülern eingebläut wird, sich und andere vorrangig durch die Perspektive der Rasse zu sehen und die Vereinigten Staaten nicht als ein Land von Hoffnung, Freiheit und Möglichkeiten für alle zu sehen, sondern als einen in seinem Kern rassistischen Moloch. Diese Bemühungen in der Praxis laufen wohl öfter unter dem etwas weniger hochgestochenen und allgemeineren Wort ‚Antirassismus‘ als unter dem Begriff ‚kritische Rassetheorie‘. Weil ein im Fernsehen auf zehn Sekunden zusammengeschnittener Satzfetzen, man sei gegen ‚Antirassismus‘ aber zur Falschinterpretation einlädt, hat sich pars pro toto der Begriff ‚kritische Rassetheorie‘ als Name für die entsprechenden Anstrengungen eingebürgert.
‚Antirassismus‘ wie ‚Antifaschismus‘
Mit diesem ‚Antirassismus‘ ist es nun so eine ähnliche Sache wie mit dem ‚Antifaschismus‘, sei es in seiner realsozialistischen Ausprägung oder in derjenigen der ‚Antifa‘. Es ist damit keineswegs hauptsächlich eine Gegnerschaft zu dem auf ‚anti‘ folgenden Phänomen gemeint, sondern vielmehr ein Phänomen das dem angeblich bekämpften Phänomen wie ein Spiegelbild gleicht.
Niemand wird jemanden, der aus konservativer, liberaler oder christlicher Überzeugung Faschismus und Nationalsozialismus abgrundtief hasst, der ‚Antifa‘ zurechnen, auch dann nicht, wenn die entsprechende Person jederzeit mit der Waffe in der Hand unter Einsatz ihres Lebens eine Machtübernahme dieser Bewegungen bekämpfen würde. Vielmehr denkt man bei der ‚Antifa‘ an einheitlich schwarz gekleidete gewaltbereite Blöcke, schwarz-weiß-rote Fahnen mit einem kreisförmigen Symbol in der Mitte, Gewalt gegen Andersdenkende, Bewunderung von Diktatoren, Hass auf Juden als ‚Solidarität mit Palästina‘ verbrämt, usw. Beim realsozialistischen ‚Antifaschismus‘ denkt man an ein (effektives) Einparteiensystem, Führerkult, Führerprinzip unter dem Namen des „demokratischen Zentralismus“, Einschüchterung, Inhaftierung und jedenfalls anfänglich Ermordung Andersdenkender, Einmarsch nach Tschechien. Der ‚Antifaschismus‘ zeichnet sich also gerade dadurch aus, dem Faschismus bis zur Imitation ähnlich zu sein. Das Ziel seiner Gegnerschaft ist auch nicht primär der Faschismus, denn der hat sowohl subjektiv in der Selbstsicht der Leute wie auch objektiv in der Übernahme seiner Ansichten und Ziele seit 1945 eh keine Konjunktur mehr, sondern der ‚Antifaschismus‘ nennt allerlei andere überhaupt nicht faschistische Dinge wie die freiheitlich-demokratische Grundordnung, Liberalismus, Marktwirtschaft, Transatlantizismus, Israel usw. ‚Faschismus‘ und bekämpft dann diese eben mit Methoden in direkter Imitation des Faschismus.
20.000 Dollar für eine Stunde ‚Antirassismus‘
Genauso verhält es sich nun auch mit dem sich selbst so bezeichnenden ‚Antirassismus‘ der unter dem Begriff der ‚kritischen Rassetheorie‘ Gegenstand des Wahlkampfs von Virginia war. Nehmen wir Ibram X. Kendi, der offensichtlich von der Demokratischen Partei in Virginia hofiert wird, dessen politisches Programm, wie auch immer genannt, man mindestens teilweise übernehmen will, und der aus Steuergeldern gut versorgt wird. So hat er für eine einstündige Rede zum Thema ‚Antirassismus‘ vor dem Schulausschuss des Kreises Fairfax in Virginia ein fürstliches Salär von 20.000 Dollar bekommen. Schon bei diesem Betrag allein ist klar, dass er nicht als eine Stimme von vielen reden durfte, sondern seine Worte programmatisches Gewicht haben sollen. In einer Woche darf er die Keynote bei einer Konferenz des Gouverneurs von Virginia sprechen, und seine Gebühren dafür dürften kaum geringer sein. Das Bildungsministerium von Virginia empfiehlt Kendis Buch ‚How to be an Antiracist‘ (es gibt eine deutsche Ausgabe, seltsamerweise mit dem englischen Titel) zur Lektüre. Ich habe mir hier einen Vordenker dieser Bewegung herausgegriffen, und es gäbe andere, aber sein Wort hat offensichtlich Gewicht im von der Demokratischen Partei regierten Virginia.
Was hat dieser Herr Kendi nun zu sagen, das solche Beträge wert ist? Sein wesentlicher Denkschritt, der seinen ‚Antirassismus‘ vom liberalen Ideal der Gleichbehandlung der Menschen unabhängig von Kriterien wie Rasse abgrenzt, ist, dass er diese Gleichbehandlung als ‚rassistisch‘, die Ungleichbehandlung der Menschen nach rassischen Kriterien aber als ‚antirassistisch‘ definiert. Es lohnt sich, das in einer gewissen Länge wiederzugeben:
Wenn man Rassendiskriminierung definiert als die ungleiche Behandlung, Bevorzugung oder das Treffen einer Unterscheidung für oder gegen ein Individuum auf der Basis der Rasse dieser Person, dann ist Rassendiskriminierung nicht inhärent rassistisch. Die definierende Frage ist, ob die Diskriminierung Billigkeit oder Unbilligkeit erzeugt. Wenn Diskriminierung Billigkeit erzeugt, dann ist sie antirassistisch. Wenn Diskriminierung Unbilligkeit erzeugt, dann ist sie rassistisch. […]
Die einzige Abhilfe gegen rassistische Diskriminierung ist antirassistische Diskriminierung. Die einzige Abhilfe gegen Diskriminierung in der Vergangenheit ist Diskriminierung in der Gegenwart. Die einzige Abhilfe gegen Diskriminierung in der Gegenwart ist Diskriminierung in der Zukunft. […]
Die rassistischen Befürworter vor den 1960ern der Rassendiskriminierung, die zur Aufrechterhaltung rassischer Ungerechtigkeiten diente, sind heute rassistische Gegner antirassistischer Diskriminierung, die dazu dient, diese Ungerechtigkeiten abzuschaffen. Die bedrohlichste rassistische Bewegung ist nicht der aussichtslose Versuch der alternativen Rechten, einen weißen Ethnostaat zu errichten, sondern der des normalen Amerikaners, einen ‚rasseneutralen‘ zu errichten.
Ibram X. Kendi. How to Be an Antiracist.
Man kann das, denke ich, ohne Ungerechtigkeit zusammenfassen als: „Ablehnung von Rassismus ist Rassismus. Rassismus ist Antirassismus.“ Bemerkenswert ist allerdings, dass selbst Kendi die während der Trump-Jahre von den Medien als Strohmann so gerne bemühten ‚alternativen Rechten‘ und ihr Streben nach einem Staat mit dezidiert weißer Ethnizität in Anerkennung des Offensichtlichen als unbedeutend und ungefährlich abtut. Seine Gegner sind nicht Rassisten umgekehrten Vorzeichens, sondern Liberale im klassischen Sinne.
Spießrutenläufe an den Schulen
Wenn man dieses Programm nun in den Schulen umsetzen will, dann ist die Katastrophe natürlich garantiert. Im Schulbezirk meines Wohnorts, eines wohlhabenden Vororts, wenn auch nicht in Virginia, wurde laut eines laufenden Gerichtsverfahrens den Lehrern eingebläut: „Weniger weiß zu sein, bedeutet weniger rassisch unterdrückend zu sein.“ Schüler wurden offenbar nach Rassen getrennt und zu einer Art Spießrutenlauf (im übertragenen Sinne, glücklicherweise, noch!) nach der Abstufung der ihnen zugeschriebenen „Privilegien“ verdonnert, und ihnen wurde beigebracht, dass die gleiche Behandlung von Menschen aller Rassen „dem Rassismus hilft.“
Man hat also in diesem ‚Antirassismus‘ ein Spiegelbild des Rassismus, das sich von diesem nur dadurch unterscheidet, dass es sich ‚anti‘ nennt. ‚Rasse‘ soll als ‚soziales Konstrukt‘ entlarvt werden, und wird doch jedem Menschen als eine Essenz seines Wesens zugeschrieben, die darüber entscheidet, ob er privilegiert oder unterdrückt sei, ob er bevorzugt oder benachteiligt behandelt werden müsse, ganz unabhängig von seinen persönlichen Ansichten und seinem alltäglichen Verhalten. Für gereifte Persönlichkeiten ist das bestenfalls peinlich, bei Androhung von Strafe auch beängstigend, und zwar völlig unabhängig davon, wie sie aussehen oder wo ihre Vorfahren herkommen. Für Kinder, denen es naturgemäß schwerer fällt, ihrem Lehrer mit unverfänglichen Worten zu erklären, dass sie rassische Wertskalen der Menschen ablehnen, ist es eine katastrophale Zumutung. Wie soll man in der Pause fröhlich miteinander spielen, wenn man gerade gelernt hat, wie sehr man einander durch seine reine Existenz unterdrücke? Warum soll ein angeblich rassistisch benachteiligter Schüler fleißig lernen, wenn ihm andauernd eingebläut wird, dass die ganze rassistische Gesellschaft ihm ohnehin keine Chance gäbe?
Das entscheidende Thema für ein Viertel der Wähler
Weiter steht eine Absonderung von Menschen, insbesondere von Schulkindern, nach Kriterien der Rasse im Widerspruch zur amerikanischen Verfassung. Selbst der Versuch, nach Rasse getrennte Gruppen gleich zu behandeln, ob in der Gleichbehandlung ernstgemeint oder nicht, wird seit einer Entscheidung des obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten von 1954 als klar verfassungswidrig angesehen. Umso mehr trifft das zu, wenn der Zweck der Absonderung gerade ist, die Ungleichheit der Rassegruppen in ihrer moralischen Wertigkeit zu vermitteln. Mit dem verfassungsmäßig garantierten Schutz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz ist das nicht zu vereinbaren. Präsident Eisenhower hat noch die 101ste Luftlandedivision—berühmt dafür, dass man besser keinen Streit mit ihnen sucht—nach Arkansas geschickt, um das den weißen Segregationisten klarzumachen, zur Not auf die handfeste Tour. Heute führen hart Linksliberale (nach eigener Diktion, auch wenn an ihnen nichts mehr liberal ist) solche Unterscheidungen wieder ein.
Davon hatten viele Wähler in Virginia genug, und das war es, was die Auseinandersetzung um die ‚kritische Rassetheorie‘ an den Schulen in diesem Gouverneurswahlkampf im Auge hatte. Für ein ganzes Viertel der Wähler war dies laut Umfragen die wichtigste Frage in dieser Wahl. Glenn Youngkin hatte versprochen, diese Praktiken an seinem ersten Amtstag zu verbieten. Ganz so einfach dürfte das wegen Gewaltenteilung, Redefreiheit und kommunaler Autonomie nicht sein, aber klar ist, dass es vielen Wählern mit dieser Rassehetze reicht. Terry McAuliffe hat dagegen einerseits behauptet, die ‚kritische Rassetheorie‘ würde an Schulen in Virginia gar nicht unterrichtet, andererseits, ganz im Sinne dieser Theorie, dass der Wunsch, auf Rassendiskriminierung zu verzichten, eine für die rassistischen Rechten hörbare „Hundepfeife“ sei. Es dürfte auch nicht jeder Wähler goutiert haben, wegen der Ablehnung von Rassediskriminierung des Rassismus beschuldigt zu werden.
Andere kulturkämpferische Themen wurden in etwas geringerer Intensität, aber in ähnlicher Weise wie die Frage der ‚kritischen Rassetheorie‘ behandelt.
Postnatale Spätabtreibung
Zum ewigen Streitthema der Regelungen zur Abtreibung präsentierte sich Youngkin ähnlich moderat wie zu anderen Themen. Weitgehende Einschränkungen, wie Texas sie gerade auf rechtlichen Umwegen zu erreichen versucht, lehnt er ab, will andererseits aber Abtreibungen nach dem Zeitpunkt, zu dem der Fötus plausibel Schmerz empfinden kann, wohl um die Hälfte der Schwangerschaft, nur aus dringenden medizinischen Gründen zulassen. McAuliffe dagegen sieht sich als eine „Mauer“ der „reproduktiven Rechte“ in Form von Spätabtreibungen bis hin zum Zeitpunkt des natürlichen Geburtsvorgangs und während dessen.
Dazu gibt es in Virginia eine Vorgeschichte: 2019 hat die Abgeordnete Kathy Tran, Demokratische Partei, ein Gesetz eingebracht, das Abtreibungen auch noch während des Geburtsvorgangs erlauben sollte, mit der Voraussetzung irgendeiner behaupteten Gefährdung der Gesundheit der Mutter, auch einer angeblichen Gefährdung ihrer Psyche durch die Mutterschaft. Auf parlamentarische Nachfragen hin hat sie bestätigt, dass ihr Gesetz das erlauben solle, nicht etwa nur missverständlich formuliert sei.
Der gegenwärtige Gouverneur Northam, ein Arzt, hat dazu dann noch erklärt, dass man das Kind auch erst herausholen würde, es „ihm bequem machen“ und dann in „einer Diskussion zwischen den Ärzten und der Mutter“ das weitere Vorgehen besprechen wollte. Man konnte das schlecht anders verstehen, als dass Abtreibungen auch noch nach der Geburt erlaubt sein sollten. Später hat Northam dann etwas zurückgerudert und erklärt, er hätte sich nur auf „schwere fötale Abnormitäten“ bezogen, was die Sache nicht unbedingt besser machte. Man muss kein fundamentalistischer Christ sein, um sich, stellt man sich diese Praktiken bildlich vor, an Dr. Mengele erinnert zu fühlen. Auch das war zu viel. Nicht jeder Wähler ist Christ oder Lebensschützer, nicht jeder Wähler will die Abtreibung eines kleinen Embryos vom Staate reglementiert sehen, aber wenn man aus den diesbezüglichen Wahlversprechen einen Horrorfilm ab Achtzehn macht, dann zahlt sich das nicht aus.
Waffenbesitzer nicht nur für böse gehalten, sondern für dumm verkauft
Nicht viel anders sah es mit dem Dauerthema des Rechts auf Waffenbesitz aus. Youngkin wollte die Dinge im Großen und Ganzen lassen, wie sie sind, mit Respekt für dieses Recht, aber ohne großartige Energie für Liberalisierungen. McAuliffe wollte „Sturmstilwaffen“, ein verquerer Kampfbegriff, mit dem die beliebtesten Langwaffen gemeint sind, verbieten, normalgroße Magazine verbieten, „Geisterwaffen“ (vom Besitzer selbst hergestellt) verbieten oder regulieren, kurzum, den gesetzestreuen Bürger mit einer Litanei von Verboten zweifelhafter Verfassungsmäßigkeit und ohne jeden Zusammenhang mit Gewaltkriminalität schikanieren.
Einen wirklichen Bock geschossen haben finanzkräftige Unterstützer des McAuliffe-Wahlkampfs dann aber, als sie Anzeigen schalteten, in denen sie Waffenbesitzer in konservativen Wahlbezirken dazu aufgerufen haben, Youngkin nicht zu wählen, weil der mangels hinreichend klarer Positionen nicht von der Waffenrechtsorganisation NRA empfohlen sei. Die angesprochenen konservativen, ländlichen Wähler konnten damit eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass diejenigen Angehörigen der linksliberalen, städtischen Eliten, die diese Anzeigen geschaltet hatten, sie nicht nur wegen ihres Waffenbesitzes für böse halten, sondern dazu noch für strohdumm. Das wiederum kommt bei ihnen noch deutlich weniger gut an als eine bloße Meinungsverschiedenheit, sondern es ist gerade diese Geringschätzung und Verachtung der Konservativen, der Facharbeiter ohne Studium, der ländlichen Bevölkerung, welche die Hebel an den Wahlmaschinen mit dem Namen Trump zum Glühen gebracht hat und mit der sich die Demokratische Partei auch weiterhin keinen Gefallen tut.
Abstrafung bei Zwischenwahlen ist politische Tradition
Man sollte den Ausgang dieser Wahl nicht als langfristige Tendenzwende überbewerten. Die Amerikaner neigen in Zwischenwahlen meistens dazu, sich im Zweifel gegen die Partei im Weißen Haus zu entscheiden. Die absichtliche und unkluge Übertragung dieses Wahlkampfes um ein Amt in Virginia auf eine Abstimmung über Biden und Trump durch die Demokratische Partei dürfte diesen Effekt noch verstärkt haben. Dass bei den in einem Jahr anstehenden Zwischenwahlen zum Kongress die Demokratische Partei abgestraft werden wird, entspricht politischer Tradition und ist ohne ein Ereignis wie einen nicht zu erwartenden Wirtschaftsboom nahezu unvermeidlich. Wie sehr die Partei des amtierenden Präsidenten abgestraft wird, kann sie aber noch beeinflussen. Inkompetenz im Weißen Haus gepaart mit kulturkämpferischer Radikalität um Themen wie ‚Antirassismus‘, Spätabtreibung, Waffenverbote, in einer Abstimmung in Minneapolis auch der vom Wähler verworfene Vorschlag der Abschaffung der Polizei, und Verachtung ganzer Bevölkerungsgruppen haben sich jedenfalls nicht als gutes Rezept herausgestellt.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Achse des Guten.