Um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu illustrieren bekommt man von der Qualitätspresse allenthalben Graphiken mit furchterregendsten Hockey-Stick Darstellungen aufgetischt. Zur Beurteilung dieses Geschehens taugen die eher wenig. Natürlich wird ein exponentielles Wachstum einer sich ausbreitenden Krankheit eine Kurve geben, die zunächst flach ist und dann furchterregend immer steiler wird — sonst könnte die Krankheit sich nicht ausbreiten. Wenn eine Infektion Immunität verleiht, dann wird sich dieses Wachstum mit der Ausbreitung der Infektion auch wieder abflachen, so lange, bis Herdenimmunität erreicht ist. Sinnvoller zur Beurteilung wäre da schon eine logarithmische Achse der Fallzahlen; aber man kann es auch interessanter gestalten.
Das Ansteckungspotential eines Erregers kann man mit der Basisreproduktionszahl R0 angeben, die angibt, wie viele weitere Menschen ein Infizierter in einer noch nicht immunen Population im Durchschnitt ansteckt. Bei SARS-CoV‑2 wird das ohne „Maßnahmen“ so auf 3 geschätzt. Wenn durch „Maßnahmen“ diese Zahl auf 1 gesenkt wird, dann ist das Wachstum der Fallzahlen gestoppt — jeder Infizierte steckt im Verlauf seiner Infektion nur noch eine weitere Person an. Sinkt die Zahl noch weiter, dann sinken die Fallzahlen. Weiter sinken die Fallzahlen durch Durchseuchung, wenn also mehr und mehr Menschen immun sind, und die tatsächliche Reproduktionszahl unter der Basisreproduktionszahl zurückbleibt, weil das Virus auf bereits Immune trifft, die es nicht noch einmal anstecken kann.
Es sieht danach aus, als ob die westlichen Länder die Ausbreitung in den Griff bekommen
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die Entwicklung der Basisreproduktionszahl anhand der gemeldeten Fallzahlen abzuschätzen, in verschiedenen Ländern, und zunächst einmal im Verlauf der Zeit:
Man sieht hier eine Abschwächung mit der Zeit und eine Bewegung auf die rote Linie, welche die 1 markiert, zu. Es sieht also zunächst einmal danach aus, als ob die westlichen Länder die Ausbreitung des Virus in den Griff bekommen.
Etwas interessanter kann man die Sache darstellen, wenn man die Entwicklung der Basisreproduktionszahl nicht gegen die Zeit darstellt (denn die Seuche ist in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten angekommen) sondern gegen den Teil der Bevölkerung, der bereits positiv getestet wurde:
Hier sieht man ein Muster bei dem das Wachstum der Infektionen am Anfang sehr wild variiert, bei 1E‑5 (also wenn einer von 100,000 der Bevölkerung infiziert getestet wurde) dann so rund bei 3 ist, ungefähr dem geschätzten Wert für R0 ohne „Maßnahmen“, und sich dann mit einsetzenden „Maßnahmen“ auf die rote Linie mit der 1 zubewegt, die erreicht wird, wenn ungefähr einer von 1,000 der Bevölkerung positiv getestet wurde. Das scheint ein gemeinsames Muster der westlichen Länder zu sein, aber sogar des Iran. (Katar lassen wir einmal außen vor.)
Eine Epidemie von Infektionen oder eine Epidemie von Tests?
Nun hat diese Auswertung aber ein Problem. Ich habe betont, dass ich anhand der gemeldeten Fallzahlen abgeschätzt habe, und dass sich für die gemeldeten Zahlen ein gemeinsames Muster ergibt. Jetzt wissen wir aber, dass oftmals noch nicht einmal jeder einigermaßen dringende Verdachtsfall einen Test bekommt, zeitnah oder überhaupt, dass sich die Häufigkeit von Tests zwischen den Ländern unterscheidet, und dass sie über die Zeit variiert.
Was wir wirklich gemessen haben ist also gar nicht das Wachstum der CoV-Infektionen, sondern das Wachstum der positiven Testergebnisse. Wenn man anfangs gleichzeitig eine relativ kleine Anzahl Infizierter im Vergleich zur Bevölkerung hat und eine relativ kleine Anzahl verfügbarer Tests, dann ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit, die man misst, die Summe der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Infektion selber und der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Tests. (Etwas vereinfacht — Veränderungen, wer getestet wird, kommen zur Testhäufigkeit noch hinzu.) Man kann anhand dieser Zahlen also nicht unterscheiden, ob man ein Wachstum der Infektionen hat oder ein Wachstum von Tests. Polemischer gesprochen: Man sieht nicht, ob man eine Epidemie von Infektionen oder eine Epidemie von Tests hat.
Damit erklären sich die anfänglich dramatischen Ausbreitungsgeschwindigkeiten mit R0 jenseits von 5 in einigen Ländern. Man darf davon ausgehen, dass von anfangs sehr wenigen Tests deren Zahl sich nach dem Anfang des Testens und ersten positiven Ergebnissen schnell erhöht hat, schneller als die der Infizierten. Weiter kann sich die Zahl der Infizierten durch Einschleppen schneller erhöht haben als durch Ausbreitung innerhalb der Bevölkerung möglich gewesen wäre.
Aber wie kann man dann die positiv wirkende Entwicklung, die wir jetzt sehen, erklären? Es gibt im Grunde zwei Möglichkeiten: Die positive Lesart ist, dass die Anzahl der Tests weiter rapide steigt, die positiven Testergebnisse deshalb mehr werden, und die tatsächliche Basisreproduktionszahl an Infizierten deshalb schon deutlich unter 1 ist, wir die Sache also im Griff haben und die „Maßnahmen“ lockern könnten. Die negative Lesart ist, dass die Anzahl der Tests mit der Anzahl der Infizierten gar nicht mehr Schritt halten kann, und wir — jedenfalls in manchen Ländern — nur deshalb Ruhe sehen, weil das Testen nicht mit den Infektionen mithält. In diesem Fall müssten die „Maßnahmen“ vielleicht verschärft werden. Und die Wahrheit kann natürlich zwischen diesen Extremen liegen, wird es vermutlich auch in vielen Fällen tun.
Negative Tests berichten
Um die positive von der negativen Lesart zu unterscheiden, müsste man dringend wissen, wie viele Tests gemacht werden, aber negativ ausfallen. Das genauso systematisch zu berichten wie positive Tests wäre eine Aufgabe von höchster Dringlichkeit und kein großer Aufwand bei der bereits bestehenden Struktur für Berichte positiver Tests. Weiterhin wäre es höchst nützlich, festzustellen, welcher Anteil der Bevölkerung bereits infiziert ist oder war, aber nicht getestet wurde. Das wäre durch repräsentative Stichprobentests möglich, sowohl PCR zum Vergleich mit den Tests von Verdachtsfällen als auch serologisch zur Ermittlung der Zahl der in der Vergangenheit infizierten. Ohne diese beiden Informationen ist es schwer möglich, zu sagen, ob wir die Infektionsausbreitung unter Kontrolle haben, vielleicht sogar sehr gut, oder ob uns die Infektionen durchgehen und wir mit dem Testen nicht hinterherkommen.
Zahlen hierzu gibt es bisher nur vereinzelt, z.B. vom RKI. Für eine sinnvolle Analyse von Trends über die Zeit reicht das nicht.
Wir fliegen blind. Während wir die Richtung eines Charts unseres Bruttosozialprodukts über die letzten Wochen ohne Weiteres angeben können, fehlt es uns an der Erhebung brauchbarer Zahlen der Infizierten und eben nicht nur der infiziert Getesteten.
Die Fallzahlen stammen von World Odometers.
Viel interessanter sit die Zahl der Leute mit covid19 im Krankenhaus. Diese Zahlen sind recht zuverlässig und sagen viel aus.
Schon. Aber Krankenhausbelegungen sagen logischerweise die interessanteste Zahl nicht aus, wie viele Leute ins Krankenhaus müssten wenn die Sache durchgeht. Ob das berühmte „flatten the curve“-Szenario zwei Monate Vollbelegung der Intensivstationen und eine entsprechende Anzahl von Todesfällen bedeuten würde, oder fünf Jahre Vollbelegung und eine entsprechend höhere Zahl von Todesfällen, wäre zur Beurteilung seiner Plausibilität ja schon interessant. (Die fünf Jahre natürlich nur als offensichtlich so nicht wirklich durchzuziehender mathematischer Rechenwert-da käme vorher entweder ein Medikament oder Impfstoff oder der Kollaps, vielleicht auch eine Veränderung im Verhalten des Virus selber.)