Die sozialdemokratische Regierung Dänemarks hat, von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, ein bemerkenswertes Vorhaben angekündigt: Dieses Jahr will sie ein Gesetz einbringen, das vorschreiben soll, dass religiöse Veranstaltungen nur noch auf Dänisch stattzufinden haben. Dieser Vorschlag ist einerseits derartig irre, dass mit seiner Verwirklichung nicht zu rechnen ist. Andererseits gibt er aber einen wichtigen Einblick in den Zusammenhang zwischen ungeregelter Einwanderung und der Erosion der Bürgerrechte. Er wirft die Frage auf, ob diese Einwanderung überhaupt mit einer liberalen Gesellschaft kompatibel ist oder nicht vielmehr die liberalen Gesellschaften dem Illiberalismus der Herkunftsländer angeleichen wird.
Irre ist der Plan wegen seiner offensichtlichen Rechtswidrigkeit, politischen Unumsetzbarkeit und praktischen Unumsetzbarkeit, so dass ich hierauf nur kurz eingehe, bevor ich mich der dem Vorschlag zugrunde liegenden Logik und der Bedrohung der liberalen Gesellschaften von innen widme.
Ein vollkommen anachronistisches Ansinnen
Religiöse Rede und Praxis, die zumeist auch mindestens teilweise Rede ist, ist zusammen mit der politischen Rede der Grundgehalt der Meinungs- und Redefreiheit und der Religionsfreiheit. Es ist kein Zufall, dass der erste Zusatz zur amerikanischen Verfassung die Religions‑, Presse- und Petitionsfreiheit in einem einzigen Satz zusammen festschreibt. Die Verwendung von Fremdsprachen in der Religion ist auch üblich, sei es einerseits, um für Minderheiten Vertrautheit oder auch nur Verständlichkeit zu bieten, sei es andererseits, um mit einer Sakralsprache die religiöse Praxis vom Alltag abzuheben. Auch wenn ‚in Coronazeiten‘ vieles Unvorstellbare vorstellbar und möglich wurde, ein derartig frontaler Angriff auf den Kern von durch nationales und internationales Recht garantierten Menschenrechten wird vor Gericht kaum Bestand haben.
Dänemark hat auch nationale Minderheiten mit besonderem Schutz, nicht nur die deutsche Minderheit mit spezifischen Schutzrechten, sondern auch die Färinger und die Grönländer, die sich für einen Rückfall in Kolonialzeiten artig bedanken würden. Dazu kommen Zuwanderer, die billige Arbeit in einem Hochlohnland liefern. Soll den Polen die Messe auf Polnisch verboten werden? Und will man sich, wenn man schon dabei ist, in die Frage der lateinischen Messe bei den Katholiken einmischen? Das alles wäre ein Projekt, das schon im Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts besonders radikal gewesen wäre, denn selbst die Sprachreskripte der damaligen Nationalitätenkämpfe machten Ausnahmen für Gottesdienst und Religionsunterricht. Heute mutet ein solchen Ansinnen vollkommen anachronistisch an.
Die Vorstellung der praktischen Umsetzung ist lächerlich
Praktisch nicht umsetzbar ist das Projekt, weil es nicht zu überwachen ist. Um wenigstens den größten Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, soll es erlaubt sein, bei weiterhin fremdsprachlich abgehaltenen Veranstaltungen eine Übersetzung nachzuliefern. Wenn das tatsächlich geschieht, wer will da überwachen, dass die Übersetzung nicht mindestens entschärft ist? Das Reden mit gespaltener Zunge, die sich gleichzeitig in der Landessprache um finanziell dotierte Integrationspreise bewirbt und in der Herkunftssprache den Hass auf die Mehrheitsgesellschaft predigt, wäre ja keine ganz neue Erscheinung.
Die radikalsten Predigten werden auch gemeinhin nicht im offiziellen Gottesdienst gehalten, sondern eher in kleineren Gesprächskreisen Gleichgesinnter. Sollen die Stenographie lernen und das dann hinterer übersetzen? Würde diese Verpflichtung auch für spontane Ausrufe oder gar die Zungenrede charismatisch orientierter Christen gelten? Jede konkrete Vorstellung der praktischen Umsetzung ist offensichtlich lächerlich.
Es geht um den radikalen Islam
Gar nicht lächerlich ist allerdings die Motivation und eigentliche Stoßrichtung der Vorschlags. Die Regierung redet von „Transparenz“ und „Offenheit“, mit der es den Dänen ermöglicht werden solle, „sich auf Dänisch zu orientieren.“ Das ist offensichtlicher Unsinn. Dänische Sozialdemokraten des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind keine radikaleren Nationalisten als dänische Nationalliberale des neunzehnten Jahrhunderts. Es geht natürlich um den radikalen Islam, um ‚Hassprediger‘ und um Terrorismus, es geht um muslimische Einwanderer und um nicht integrierte muslimische Einwandererkinder.
Der moderne radikale islamische Fundamentalismus ist zuallererst eine Reaktion auf und gegen den westlichen Liberalismus, seine Erfolge und seine Anziehungskraft, nicht eine auf spirituelle Praxis oder detaillierte religiöse Inhalte gerichtete Bewegung. Daraus erklärt sich, warum er seine Anziehungskraft gleichzeitig auf Intellektuelle hat, die den Westen kennen und verachten lernen konnten und als Gegenpol zu ihrer Identität verstehen, und auf der anderen Seite auf gescheiterte Straßenkriminelle, die sich noch nicht einmal die Mühe gemacht haben, Arabisch zu lernen, um den Koran lesen zu können. Der Antiliberalismus als Kernanliegen wird schon in den Namen mancher dieser Bewegungen zum Ausdruck gebracht. „Boko Haram“ kann man frei mit „Liberalismus ist verboten“ übersetzen, was über den Gegner mehr Auskunft gibt als über das, was stattdessen angestrebt werden soll. Auf eine Bewegung, deren Kernanliegen gerade die gewalttätige Feindschaft zum Liberalismus ist, gibt es aber keine liberale Antwort, oder es wurde jedenfalls noch keine erfolgreich praktiziert.
Entschieden illiberale Reaktion
In den muslimischen Ländern selber wird mit dem islamischen Fundamentalismus robust umgegangen. Der Vordenker dieses modernen Fundamentalismus, Sayyid Qutb, verbrachte den Großteil seiner letzten zehn Lebensjahre im ägyptischen Gefängnis. Da wurde er einerseits gefoltert, durfte andererseits aber schreiben und veröffentlichen, noch radikaler als zuvor. Teilweise auf der Grundlage seines hinter Gittern verfassten Buches Meilensteine, einer bemerkenswerten Programmschrift dieses modernen und radikalen Fundamentalismus, gewürzt mit ebenso radikalem Antisemitismus, wurde er dann zum Tode verurteilt und gehängt. Auch danach blieb der Umgang mit seiner Moslembruderschaft in Ägypten robust und nicht gerade rechtstaatlich, und in vielen muslimischen Ländern wird das ähnlich gehandhabt. Die liberalen – im Vergleich zu den Fundamentalisten, was nicht viel heißen muss – Nationalisten der muslimischen Staaten haben auf diesen Fundamentalismus jedenfalls nur entschieden illiberale Antworten gefunden.
Als der Qutbismus, wie ich diesen modernen und radikalen Fundamentalismus fortan nennen möchte, sich dann mit den Anschlägen vom 11. September 2001 mit einem Paukenschlag im Westen anmeldete, war die Reaktion auf diesen Angriff auf den Liberalismus entschieden illiberal. Westliche Staaten schnürten ein Sicherheitspaket nach dem anderen, sei es der USA PATRIOT Act oder die Otto-Kataloge in Deutschland, in denen vorherige Selbstverständlichkeiten des Rechtsstaats wesentlich eingeschränkt wurden. Noch robuster war der Umgang mit gefangenen Kämpfern, deren Unterbringung an Orten wie Guantanamo Bay oder Abu Ghraib stark an den Umgang mit eben diesen Herrschaften in vielen muslimischen Ländern erinnerte, aber weniger an westliche Standards im Umgang mit Kriegsgefangenen oder einer Straftat Beschuldigten.
Überwachung durch Spitzel logisch notwendig
Damit kommen wir zurück zu dem Plan, dass religiöse Veranstaltungen nur noch in der Landessprache stattzufinden haben. Wenn liberale Antworten auf den in seinem Wesenskern antiliberalen Qutbismus nicht gefunden wurden, dann führt die insbesondere von der deutschen Bundesregierung orchestrierte Masseneinwanderung gerade aus den am meisten von Kämpfen um den Qutbismus zerrütteten Ländern in die Europäische Union zwangsläufig zu einer illiberalen Antwort in den vormals liberalen westlichen Gesellschaften.
Nachdem es offensichtlich nicht um ein Projekt des nation building geht, kann man die Vorschrift, dass religiöse Veranstaltungen nur in der Landessprache abzuhalten oder jedenfalls in diese zu übersetzen seien, nur so verstehen, dass die Überwachung solcher Veranstaltungen vereinfacht werden soll. Das ist zwar nicht praktikabel, aber die Implikationen, wenn man es praktikabel machen wollte, sind bemerkenswert. Irgendjemand müsste diesen dann leichter verständlichen Predigten ja zuhören, denn sonst brächte die Verständlichkeit keine bessere Überwachung. Das könnten verdeckte Spitzel sein oder eine offene Religionspolizei oder beides. Bei dem Gesetzesvorschlag soll jedenfalls „Betrug“ vermieden werden, was man eigentlich nur so verstehen kann, dass eine Überwachung durch Spitzel als logisch notwendig erachtet wird.
Jedes nicht überwachte Gespräch eine Sicherheitslücke
Ein derart robuster Umgang mit dem Qutbismus, wie er in vielen muslimischen Ländern praktiziert wird, passt nicht recht zu europäischen Sensibilitäten, so dass bei uns der Schwerpunkt der illiberalen Antwort auf den importierten Antiliberalismus mehr in der Überwachung als in der Bestrafung und Abschreckung liegen wird. Idealerweise sollte keine Kommunikation überwachungsfrei sein. Das fängt mit der Vorratsdatenspeicherung an und geht weiter mit dem nach dem Anschlag von Wien erneut ins Spiel gebrachten EU-weiten Verbot sicher verschlüsselten Nachrichtenaustauschs.
Weil aber nicht alle Kommunikation elektronisch ist bliebe auch bei einer wirksamen Umsetzung derartiger Überwachung die riesige Überwachungslücke persönlicher Treffen. Gerade hier setzt der dänische Vorschlag der besseren Überwachbarkeit, und logisch damit einhergehend der tatsächlichen Überwachung, religiöser Veranstaltungen an.
Bei der Bespitzelung religiöser Veranstaltungen kann es aber kaum bleiben. Schon weil bei politischer Religion und fundamental-religiöser Politik eine Unterscheidung von Politik und Religion unmöglich ist, weil eben deren Einheit gefordert wird, bräuchte man eine ähnliche Bespitzelung auch für politische Versammlungen. Weil nicht völlig auf den Kopf gefallene Verschwörer bevorzugt in vertrauten Kleingruppen agieren wäre sogar jedes nicht überwachte Gespräch eine Sicherheitslücke und der große Lauschangriff, beispielsweise durch eine den Sicherheitsbehörden zugängliche Wanzenfunktion in allen Mobiltelephonen, die logische Fortentwicklung.
Von einem Charakteristikum des Feindes zum Sicherheitsversprechen
Ein derartiger Überwachungsstaat wäre vermutlich immer noch nicht besonders effektiv in der Abwehr terroristischer Anschläge. Einzeltäter brauchen ihre Pläne gar nicht zu kommunizieren, und das Auffinden konspirativer Gruppen ist das Problem der Nadel im Heuhaufen einer unermesslichen Datenflut. Ansetzen müsste er deswegen früher, nämlich beim Mundtotmachen unerwünschter Meinungen, die zwar für sich noch nicht kriminell sind, aber als Vorstufe der Radikalisierung angesehen werden. Das würde, wenn die Möglichkeiten erst einmal geschaffen sind, sicher nicht bei der Auseinandersetzung mit dem Qutbismus bleiben, sondern könnte auch trefflich zum Kampf gegen Rechts, gegen Klimaleugner oder Coronaleugner eingesetzt werden.
Es ist nicht so lange her, dass die westliche Staaten stolz auf ihre bürgerlichen Freiheiten waren und diese als Kontrast zu der Unterdrückung und Bespitzelung in der sozialistischen Welt herausstellten. Die Bewahrung dieser Freiheit war so wichtig, dass sie als Grund nicht nur für die Wehrpflicht sondern sogar für das Risiko eines Atomkriegs galt. Zwischen dem Kalten Krieg und den Anschlägen des 11. September liegt eine kürzere Zeit als zwischen diesen Anschlägen und dem heutigen Tag. Bespitzelung wurde in dieser Zeit von einem Charakteristikum des Feindes zu einem Sicherheitsversprechen.
Vielleicht lese ich zu viel in den Vorschlag der dänischen Sozialdemokraten. Die Regelung der Sprache der Religionsausübung zum Zwecke der Bespitzelung ist so irre und so unpraktikabel, dass dieser Vorschlag vielleicht einfach der Ausdruck von Dummheit ist und nicht der eines Plans. Das diesem Vorschlag zugrundeliegende Problem bleibt aber bestehen: Kann eine Gesellschaft, die sich die radikalsten Formen des gewalttätigen Antiliberalismus importiert, selber liberal bleiben?