In einem insgesamt etwas verschwurbelten Artikel von Samira El Ouassil im Spiegel findet sich ein interessanter Satz:
Das zweite Problem liegt in der Natur der Pandemie selbst, die ähnlich wie der Klimawandel unsere Vorstellungen von Raum und Zeit derart übersteigt, dass wir sie geistig nicht wirklich fassen, sondern nur in einem metaphysischen Sinne ergründen können.
Samira El Ouassil, ‚Mit Geisterdebatten gegen das Virus‘, Spiegel, 23.04.2020
Das ist überraschend, denn Klima und Epidemien spielen sich eigentlich sehr wohl in den dem Menschen intuitiv zugänglichen Kategorien von Raum und Zeit ab. Sie erlegen einem weder die Zumutungen der Philosophie noch die der modernen Physik auf. Wohl sind es, im Fall des Klimas mehr und im Fall von Epidemien etwas weniger, chaotische Systeme, welche Beziehungen von Ursache und Wirkung schwer fassbar machen. Aber daraus sollte eigentlich nicht folgen, dass man seinen Verstand in Bezug auf Sachlagen, Ursachen, Wirkungen und Handlungsoptionen ausschaltet, sondern man kann systembedingte Unsicherheiten quantifizieren und in seine Überlegungen miteinbeziehen. Das Problem bei diesen Dingen ist nicht, „dass wir sie geistig nicht wirklich fassen […] können“, sondern eher ein Bedürfnis, das nicht zu tun.
Der „metaphysische Sinn“ in dem Frau El Ouassil den Wandel des Klimas und die Covid-19-Pandemie zu „ergründen“ versucht, und mit ihr weite Teile des Publikums, muss wohl als eine Sinnsuche des postreligiösen Zeitalters verstanden werden.
Dass der Missionserfolg trotz jahrelanger Bemühungen völlig vorhersehbar exakt gleich null ist, interessiert gar nicht
Schon die Klimabegeisterung, die jetzt fürs erste in den Hintergrund getreten ist, hatte erhebliche Züge eines religiösen Revivals. Wie bei den christlichen Revivals spielte das Aufgehen in der momentanen Begeisterung eine größere Rolle als entweder ein Verständnis der so enthusiastisch gefeierten Glaubensinhalte oder eine nachhaltige Veränderung der Lebensgewohnheiten.
Es gibt davon auch eine unangenehmere Variante wenn dem Prediger jedes Missionstalent abgeht: In Amerika sieht man noch heute gelegentlich Erweckungsprediger, die sich auf einen Universitätscampus stellen und mit der Bibel in der Hand die männlichen Studenten als ‚Schwuchteln‘ und ‚Hurentreiber‘ und die weiblichen als ‚Huren‘ beschimpfen. Dass der Missionserfolg trotz jahrelanger Bemühungen dabei völlig vorhersehbar exakt gleich null ist, interessiert sie gar nicht, denn tatsächlich geht es nur um die eigene moralische Selbstvergewisserung. Auch die mitgeführte Bibel scheint nur wenig im Sinnzusammenhang gelesen zu werden, sondern dient eher als Zitatenschatz.
Bei vielen Klima‑, Corona‑, BDS‑, „social justice“, etc. Aktivisten scheint mir der Fall gleich gelagert zu sein. Einen ähnlichen Auftritt erleben wir jetzt gerade, wenn beim Joggen alleine und in weitem Abstand von anderen Menschen jemand auf einen zukommt, und – selbstverständlich ohne Mundschutz und in schon ohne Epidemie unhöflicher Nähe – einen anbrüllt, man solle heimgehen, #stayathome, Menschen stürben, usw.
Frau El Ouassil bezieht sich auf einen „Begriff des ‚Hyperobjekts‘ […], der etwas Allumfassendes meint, das so groß ist, dass wir es in seiner Gesamtheit nicht wahrnehmen können“. Früher nannte man das Gott. Wenn Gott seine Überzeugungskraft verloren hat, dann muss alles und jedes an seiner Stelle herhalten. Die Eiferer aber bleiben uns.