Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hat letzte Woche mit einer Reihe von Tweets Wellen geschlagen, in denen sie sich vorauseilend dafür entschuldigt hat, in einem Interview ‚das ‚N‑Wort‘“ verwendet zu haben. Bei der erheblichen Abhandlung der Geschichte in der Presse ist es eigentlich ganz erstaunlich, und illustriert die Probleme der Sprachtabuisierung aufs Trefflichste, dass weder Frau Baerbock noch sonst jemand berichtet hat, welches Wort sie eigentlich verwendet hat.
Es gibt da ja offensichtlich mindestens zwei Möglichkeiten. Zu den Zeiten als das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich noch nicht völlig vom Bildungs- auf den Umerziehungsauftrag umgestellt hatte, wurden diese beiden Wörter und ihr Bedeutungsunterschied im in der beliebten Serie ‚Unser Lehrer Dr. Specht‘ im Vorabendprogramm vom ZDF nicht nur durchgearbeitet, sondern das wurde mit offensichtlichem Genuss getan:
Man muss also konstatieren, dass beide Wörter vor zwanzig Jahren noch einer sympathischen und kindgerechten Heldenfigur in den Mund gelegt werden konnten. Das war eine Zeit, zu der Frau Baerbock neunzehn Jahre alt war, also durchaus beide Wörter in ihren Sprachgebrauch aufgeschnappt haben könnte, vielleicht sogar von Dr. Spechts Erläuterungen.
Frau Baerbock: Um welches Wort handelte es sich denn nun?
Um nicht alle Suchmaschinenfilter anspringen zu lassen wie auch zur komischen Illustration der sich aus dem Sprachtabu ergebenden Schwierigkeiten will die die in Frage kommenden N‑Wörter im Folgenden als das ‚Ne-Wort‘ und das ‚Ni-Wort‘ bezeichnen. Sollte ein Leser den Unterschied nicht kennen, dann klärt ihn Dr. Specht im Videoarchiv oben verlinkt gebührenfinanziert und öffentlich-rechtlich geprüft auf.
Die Frage, die sich nun stellt, ist, welches dieser Wörter Frau Baerbock erst ganz normal gesagt hat und dann hat auspiepen lassen. Das Wort wurde von Frau Baerbock ja nicht als ihr eigenes verwendet, sondern als Beschreibung eines angeblichen rassistischen Vorfalls. Da wäre es dann eigentlich mindestens plausibel und sogar logisch stimmiger, dass es sich um dasjenige der beiden Wörter handelt, das ohne Frage rassistische Konnotationen hat, also das Ni-Wort.
Im Gegensatz zur Ni-Wort-Hypothese könnte man natürlich auch denken, dass eine gegen Diskriminierung so sensibilisierte Frau wie Frau Baerbock das Ni-Wort niemals aussprechen würde, und es sich deswegen um das Ne-Wort handeln müsse. Diese These wird einerseits gestützt von dem Umstand, dass das Ne-Wort im Deutschen eine wesentlich höhere Verwendungshäufigkeit hat als das Ni-Wort. Andererseits wird diese These dadurch geschwächt, dass Frau Baerbock mit dem genannten N‑Wort ja ein durch den folgenden feierlichen Widerruf anerkanntes von ihr empfundenes Tabu versehentlich verletzt hat. Damit ist es keine plausible Erklärung, dass das in Frage stehende Wort keines sein könne, dass sie als Tabu empfindet, sondern je tabuisierter das Wort, desto wichtiger wäre ihr wohl dessen Tilgung.
Also, Frau Baerbock: Um welches Wort handelte es sich denn nun? Das wäre auch zur Beurteilung des angeblichen rassistischen Zwischenfalls in einer Schule, von dem Sie eigentlich erzählen wollten, von einiger Bedeutung.
Tabu aus dem amerikanischen Kontext
Die ganze Episode illustriert nun natürlich ein grundsätzliches Problem der politisch korrekten Sprachtabus.
Der Begriff ‚n‑word‘ hat seine Verbreitung im Amerikanischen anlässlich der Sensationsberichterstattung über den O.J. Simpson-Prozess 1995 erhalten, bei der die Glaubwürdigkeit des Kriminalpolizisten Mark Fuhrman durch Tonbandaufnahmen angegriffen wurde, in denen er regelmäßig das Ni-Wort verwandt und seine Abgeneigtheit gegenüber der betreffenden Personengruppe dargetan hatte. Von da ist das dann in Imitation nach Deutschland übergeschwappt, und die Behandlung in Dr. Specht folgte vier Jahre später als das noch relativ frisch im Gedächtnis war.
Nun hatte das Ni-Wort im Deutschen aber nie eine besonders große Verbreitung. Die sozialen Konflikte, die im Amerikanischen damit markiert wurden, besonders kunstvoll von dem Gouverneur von Alabama, George Wallace, der je nach Kontext stufenlos die Aussprachen des Ne- und des Ni-Wortes mischen konnte, gab es in Deutschland nicht. Die relativ häufige Verwendung in der Hauspostille der SS, ‚Das Schwarze Korps‘, hatte oftmals einen direkten Bezug zu Amerika, zumal diese Zeitschrift gerne und genüsslich auf die amerikanische Praxis des Lynchens hinwies, um Kritik am eigenen Vorgehen zu relativieren. Die Bezeichnung der Ukrainer durch den Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch als „weiße Ni-“ dürfte als Oxymoron ebenfalls einen ironisierenden Bezug zu amerikanischen Rassekonflikten bezweckt haben, um von Kochs eigener Kriminalität in ganz anderen Dimensionen abzulenken. So oder so, für die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit war das nicht stilbildend, und das Ni-Wort hört man in Deutschland mit Abstand am häufigsten von Gangsta-Rappern, bei denen es im Wortschwall der Unflätigkeiten untergeht, also ebenfalls als amerikanischen Import und in englischer Sprache.
Ein Ratschenmechanismus des Tugendvorzeigens
Wenn man dann aber, um trotz der weitgehenden Abwesenheit des eigentlich gemeinten Wortes seine Tugend durch die ostentative Wortkürzung in Zitaten vorzeigen zu können, auch das Ne-Wort tabuisiert und als ‚N‑Wort‘ umschreibt, dann tut sich ein offensichtlicher Konflikt auf. Eine solche Umschreibung funktioniert nur, wenn eindeutig ist, welches Wort gemeint ist, wenn das Tabu also so stark ist, dass man die Umschreibung für kein anderes Wort benutzen würde. Spricht jemand vom ‚Tetragrammaton‘, dann ist klar, dass er nicht eines der amerikanischen ‚four-letter words‘ meint, obwohl natürlich beide Begriffe Vierbuchstabenwort bedeuten. Spricht jemand im Deutschen vom ‚N‑Wort‘, dann ist eben nicht klar, um welches Wort es sich handelt. Jemand, der das Ne-Wort damit umschreibt, wird kaum das Ni-Wort aussprechen. Im Amerikanischen wäre mit ‚n‑word‘ klar das Ni-Wort gemeint.
Es handelt sich also bei der Tabuisierung von Wörtern, die man dann aus historischen Quellen entfernen muss und auch nicht im Zitat verwenden darf, um einen sich selbst ad absurdum führenden Ratschenmechanismus. Wird ein Wort tabuisiert, dann muss sich der Prozess des Tugendvorzeigens ein neues Zielwort suchen, womit aber die Grundlage des Tabus, dass nämlich jeder weiß, was genau gemeint ist, wegfällt. Das wiederum führt dann zum unabsichtlichen Tabubruch, weil sich die Menge der Tabuwörter dauernd vergrößert, so dass selbst eine professionelle Politdarstellerin mit enormer Medienerfahrung nicht mehr mitkommt. Wir bitten also Frau Baerbock um Aufklärung bezüglich des verwendeten Wortes und die Zensoren neuer Art, menschlich und automatisch, um Gnade für diesen Artikel wie für alte Kinderbücher und dergleichen.